Schnelle Jagden und spektakuläre Stürze
Das erste Sechstagerennen in Frankfurt fand vor 100 Jahren statt
Ab dem 12. Dezember 1911 wurde zum ersten Mal der Wettstreit der Langzeitradfahrer in der Frankfurter Festhalle ausgetragen. Die Sechstagerennen erlebten dann in den Fünfzigerjahren ihre goldene Zeit. Die Sportler kreisten auf einer neuen Winterbahn, die die Messe- und Ausstellungs-Gesellschaft in die wieder aufgebaute Festhalle hatte einbauen lassen.
Frankfurt am Main (pia) „Die Festhalle gleicht bei Sechstagerennen einem überdimensionalen Kochtopf“, notierte ein Journalist „gegen Mitternacht“ im November 1970 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Es „blubbert und gluckst“, und „von Zeit zu Zeit schwappt auch etwas über“. Noch in den früheren Abendstunden „brodelte (...) nichts“. Während die Radfahrer auf der hölzernen Bahn müde ihre ewigen Runden zogen, versammelte sich auf den Rängen allmählich eine bunte Menge: Sportbegeisterte und Spaßsuchende, Künstler und Kritiker, Stars und Sternchen, feine und weniger feine Damen, die Welt und die Halbwelt, alle durcheinander in gespannter Erwartung bei Bier, Bockwurst und Humbtatätärä sich die Zeit vertreibend. Bis ein Pistolenschuss die Halle weckt. Die Aussicht auf die nächste Prämie, ob eine Stange Geld oder vier Pfund Tee, stachelt die Fahrer zum Spurt an. Plötzlich scheinen sie über die Planken zu fliegen – unter tosendem Applaus, schrillen Pfiffen, Hupkonzerten und Trompetenstößen. Das war es, was das Publikum sehen wollte: schnelle Jagden und spektakuläre Stürze.
Das erste Rennen begann mit einer Panne
Vor 100 Jahren, am 12. Dezember 1911, startete das erste Sechstagerennen in Frankfurt. Erst zwei Jahre zuvor hatten die „Six Days“ nach amerikanischem Vorbild ihre Europapremiere in Berlin erlebt. Kurz darauf, im Mai 1909, war in Frankfurt die Festhalle als Europas größter Kuppelbau glanzvoll eröffnet worden. Die neue Mehrzweckhalle, die von Anfang an auch dem Sport diente, bot sich für große Radsportveranstaltungen geradezu an. Das erste Frankfurter Sechstagerennen begann allerdings mit einer Panne, weil am geplanten Premierentag die Bahn in der Festhalle nicht fertig gestellt war und das erwartungsvoll erschienene Publikum auf den nächsten Tag vertröstet werden musste.
Nach dem ersten Massensturz war die Hölle los
Erst 1928 wagte Frankfurt wieder ein Sechstagerennen. In die Festhalle strömten am letzten Novemberabend rund 5.000 Besucher. Um 22 Uhr gab der Frankfurter Fechter Erwin Casmir den Startschuss. Trotz der Jazzmusik, die die Stimmung anheizen sollte, dauerte es zwei Stunden, bis die Zuschauer warm wurden. Dann jedoch packte die Frankfurter auf einmal das Sechstagefieber: Sie johlten, pfiffen und schrien den Fahrern auf der Bahn zu, und um kurz nach eins, nach dem ersten Massensturz, war in der Halle endgültig die Hölle los. Nach 145 Stunden im Hexenkessel gewannen der Breslauer Willi Rieger und sein aus der Schweiz stammender Partner Emil Richli das Rennen. Nach dem erfolgreichen Neustart mit allabendlich über 10.000 Besuchern in den Zwanzigerjahren gab es das Frankfurter Sechstagerennen nun in (fast) jedem Winter – bis Anfang 1933. Aufgrund der politischen Ereignisse und wegen einer Grippewelle blieben die Zuschauer diesmal aus. Der Veranstalter konnte die Hallenmiete nicht bezahlen und musste daher der Messe- und Ausstellungs-Gesellschaft als Vermieterin die komplette Radrennbahn mit den Fahrerkabinen und den Innenraumlogen überlassen. Die Bahn wurde in der Festhalle eingelagert und blieb unbenutzt, bis sie bei der Zerstörung des Baus im Zweiten Weltkrieg verbrannte.
Die goldene Zeit des Sechstagerennens
Die Fünfzigerjahre sollten zur goldenen Zeit des Sechstagerennens in Frankfurt werden. Nach der Einweihung der wieder aufgebauten Festhalle (1950) ließ die Messe- und Ausstellungs-Gesellschaft unverzüglich eine neue Winterbahn bauen. Der führende Rennbahnarchitekt Clemens Schürmann schuf eine 192,30 Meter lange Bahn in einem Oval aus schwedischem Fichtenholz mit fast senkrecht anmutenden, bis zu 4,90 Meter hohen Steilkurven. Am 13. Oktober 1951 wurde die Bahn mit einem Mannschaftsrennen über 75 Kilometer um den „Eröffnungspreis der Festhalle“ eingeweiht. Mit dem Startschuss, den genau vierzehn Tage später Oberbürgermeister Walter Kolb höchstpersönlich gab, begann das erste Frankfurter Sechstagerennen der Nachkriegszeit. Die 14 angetretenen Teams fuhren Preise im damals unglaublichen Gesamtwert von 100.000 Mark aus, wobei es in den Prämienspurts um dreistellige Geldbeträge oder auch um von Firmen ausgelobte Sachpreise – von 600 Zigaretten bis hin zu einer „fetten Gans“ – gehen konnte.
„Redlicher, bitterer Sport“
Es sah zwar manchmal nicht so aus, aber: Die Sechstagerennen wollten nicht nur Schau sein, sondern – wie die Fachpresse eigens betonte – „redlicher, bitterer Sport“. Ursprünglich lief das Rennen wirklich rund um die Uhr: Einer der beiden Fahrer aus einer Mannschaft musste immer auf der Bahn sein. Die wichtigsten Jagden fanden mitten in der Nacht oder gar schon in der Früh statt, und an Schlaf war in den engen Fahrerkabinen in all dem Trubel kaum zu denken. Damit sich die Profis zwischendurch regenerieren konnten, wurden die Rennen ab 1968 täglich von 5 bis 13 Uhr „neutralisiert“, also in der Wertung ausgesetzt. Dennoch oder gerade deswegen verloren die „Six Days“ seitdem allmählich ihren Reiz. Zusätzliche Attraktionen sollten das Publikum wieder anlocken. So traten unter dem süffisanten Lächeln des Starters Theo Lingen im November 1968 der Frankfurter Verkehrsdezernent Walter Möller und der hessische Verkehrsminister Rudi Arndt, die beiden späteren Frankfurter Oberbürgermeister, in einer der beliebten „Prominentenrunden“ gegeneinander an. Aber alle Versuche mit veränderten Konzepten halfen dem Frankfurter Sechstagerennen nicht aus den anhaltenden Verlusten. Selbst der neue und vielumjubelte Lokalmatador Dietrich („Didi“) Thurau, seit 1975 erfolgreich in der Festhalle am Start, konnte die „Six Days“ in seiner Heimatstadt nur vorübergehend retten. Im Herbst 1983 drehte sich der Sechstagekreisel zum letzten Mal in der Festhalle.
Sabine Hock
Service PRESSE.INFO, hg. v. Presse- und Informationsamt der Stadt Frankfurt am Main, Feature vom 08.12.2011