Die Stadt Frankfurt ehrte sie mit einem Opel Olympia

Vor hundert Jahren wurde die Frankfurter Olympiasiegerin Tilly Fleischer geboren

Ihren ersten öffentlichen Triumph feierte Tilly Fleischer bereits in einem Schülerdreikampf im Laufen, Weitspringen und Werfen, der anlässlich der Einweihung des Waldstadions 1925 stattfand. Bei den Olympischen Spielen 1936 gewann die vielseitige Leichtathletin dann überraschend die Goldmedaille im Speerwerfen. Am 2. Oktober 1911 wurde sie in Frankfurt geboren.

Frankfurt am Main (pia) Gleich am ersten Wettkampftag der Olympischen Spiele musste Tilly Fleischer ran. Pünktlich um drei Uhr begann an jenem Sonntagnachmittag, dem 2. August 1936, im Berliner Olympiastadion der Speerwurf der Frauen. Unter den 14 angetretenen Konkurrentinnen galt die Frankfurterin Fleischer nicht unbedingt als Favoritin. Mit ihrem ersten Versuch, der deutlich unter 40 Metern lag, landete sie auch nur im Mittelfeld. Doch schon im zweiten Wurf schaffte sie einen neuen olympischen Rekord und führte nach der Vorrunde. Gegen 16.30 Uhr setzte Tilly Fleischer im Entscheidungskampf zu ihrem fünften Versuch an – und der Speer flog 45,18 Meter weit! Das war schon wieder olympischer Rekord und vor allem die Goldmedaille! „Tilly! Tilly!“, jubelten die 100.000 Zuschauer im Olympiastadion der Leichtathletin zu. Ihr sechster und letzter Wurf ging im begeisterten Tosen der Massen unter. Danach hat Tilly Fleischer nie mehr einen Speer in die Hand genommen. Mit dem Olympiasieg in Berlin 1936 beendete die damals 24 Jahre alte Sportlerin ihre Karriere in der Leichtathletik.

1928 gelang ihr der nationale Durchbruch

Vor 100 Jahren, am 2. Oktober 1911, wurde Tilly Fleischer in Frankfurt geboren. Der Vater, ein Metzger aus der Schäfergasse in der Innenstadt, betrachtete jeglichen Sport eher argwöhnisch, seit er als Kind einmal vom Reck gefallen war. Dennoch meldete er seine zappelige Tochter im Alter von zehn Jahren bei Eintracht Frankfurt an, wo sie zunächst im Verein turnte. Ihren ersten öffentlichen Triumph feierte sie bereits in einem Schülerdreikampf im Laufen, Weitspringen und Werfen, der anlässlich der Einweihung des Frankfurter Waldstadions 1925 veranstaltet wurde. Damals schleuderte die knapp 14 Jahre alte Tilly den Schlagball so weit, dass der Wurf kaum gemessen werden konnte. Als die Eintracht 1928 eine Leichtathletikabteilung gründete, war Tilly Fleischer gleich dabei. Noch im selben Jahr gelang Tilly Fleischer der nationale Durchbruch, als sie bei den deutschen Meisterschaften den zweiten Platz im Speerwerfen erreichte.

Diskus, Speer und Kugel

Die vielseitige Sportlerin, die auch einmal Frankfurter Meisterin im Tennis war und eigentlich als Fünfkämpferin begann, reihte künftig Erfolg an Erfolg. Ihre einzigen beiden Weltrekorde schaffte Tilly Fleischer mit 12,40 Meter bzw. 12,88 Meter 1929/30 im Kugelstoßen, einer Disziplin, die damals für Frauen noch nicht auf dem olympischen Programm stand. Bei den „Weltspielen der Frauen“ wurde sie 1930 in Prag Zweite im Diskuswerfen und 1934 in London Zweite im Kugelstoßen. Zweimal war sie Europameisterin im Speerwerfen und Kugelstoßen. Den deutschen Meistertitel holte sie zweimal mit der 4x100-Meter-Staffel der Eintracht (1931/33) und zweimal im Speerwurf (1932/36). Bereits 1932 war Tilly Fleischer bei den Olympischen Spielen dabei. In Los Angeles trat sie damals in drei der sechs Wettkämpfe an, die in der Leichtathletik für Frauen ausgeschrieben waren. Im Speerwurf holte sie mit einem Wurf über 43,01 Meter die Bronzemedaille; im Diskuswurf belegte sie den vierten und mit der Sprintstaffel den sechsten Platz. „Damals waren nur sechs Staffeln dabei, aber das haben wir nie gesagt. Die Leute konnten ja denken, es wären dreißig gewesen“, bekannte sie lachend über fünfzig Jahre später, als sie wieder nach Los Angeles reiste, um sich dort die Olympischen Spiele 1984 anzusehen.

Eine „Olympia-Eiche“ am Waldstadion

Bei den Olympischen Spielen in Berlin 1936 feierte Tilly Fleischer ihren größten Erfolg: die Goldmedaille im Speerwurf. Mit einer Weite von 45,18 Metern lag sie deutlich vor der zweitplatzierten Dresdnerin Luise Krüger (43,29 Meter) und der auf dem dritten Rang folgenden Polin Maria Kwasniewska (41,80 Meter). „Glückstrahlend“, so berichtete die zeitgenössische Presse, wurden diese drei allerersten Medaillengewinnerinnen der Berliner Spiele nach der Siegerehrung in die „Führerloge“ geleitet, wo Tilly Fleischer von Hitler „anerkennend die Hand auf die Schulter gelegt“ und von Göring „in herzlicher Freude in die Wangen“ gekniffen wurde. Danach machte der Präsident des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), der Franzose Henri de Baillet-Latour, den deutschen Reichskanzler darauf aufmerksam, dass allein das IOC als Gastgeber zu Ehrungen der Sportler berechtigt sei und ein solcher Empfang nicht den Regeln entspräche. Daraufhin unterließ Hitler weitere Sportlerempfänge in der „Führerloge“. Zum Schlussbankett der Spiele lud er allerdings Tilly Fleischer als seine Tischdame ein. Die Stadt Frankfurt ehrte „ihre“ Olympiasiegerin bei deren Heimkehr mit dem Geschenk eines Autos, eines Opels Olympia (!). Zum Dank pflanzte Tilly Fleischer das Eichbäumchen, das sie zusammen mit Goldmedaille und Lorbeerkranz bei der Siegerehrung in Berlin erhalten hatte, am Eingang des Waldstadions ein. Als dieser Baum 1998 aus Sicherheitsgründen gefällt werden musste, ließ es sich die mittlerweile 87-Jährige nicht nehmen, eigenhändig eine neue „Olympia-Eiche“ zu setzen.

„Königinmutter“ im „Club der alten Meister“

Nach ihrem Olympiasieg 1936 nahm Tilly Fleischer zwar ihren Abschied von der Leichtathletik. Doch blieb sie, auch nach ihrer Heirat und der Geburt von zwei Töchtern (1937/40), weiterhin sportlich aktiv. Im Handball wurde sie mit der Mannschaft von Eintracht Frankfurt 1943 deutsche Meisterin. Mit ungebrochener Sportbegeisterung glänzte sie bis zuletzt als „Königinmutter“ unter den Olympiasiegern im „Club der alten Meister“. Im Alter von 93 Jahren ist Tilly Grote-Fleischer am 14. Juli 2005 im badischen Lahr gestorben. Ihre olympische Goldmedaille von 1936 ist heute im Eintrachtmuseum zu bewundern. Schon früher war das gute Stück einmal in Frankfurt ausgestellt: Der stolze Vater zeigte es gleich nach Tillys Sieg in Berlin im Schaufenster seines Metzgerladens. Spätestens seitdem er die umsatzsteigernde Wirkung des töchterlichen Erfolgs auf sein Geschäft erkannt hatte, hatte auch er sich mit dem Sport ausgesöhnt.

Sabine Hock

Service PRESSE.INFO, hg. v. Presse- und Informationsamt der Stadt Frankfurt am Main, Feature vom 22.09.2011

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