„Die Abenteuer des Karlchen Ungeraten“

Das Frankfurter Original Karl Waßmann wurde zur Legende

Der Mann stammte aus Berlin, aber in Frankfurt wurde er zum stadtbekannten Original. Der vor 125 Jahren geborene Schriftsteller verstand es, für Schlagzeilen in eigener Sache zu sorgen. Seine unverblümten Attacken brachten ihn mehrfach vor Gericht. Der freigeistige Querkopf wurde wahrscheinlich von den Nazis in der Gaskammer umgebracht.

Frankfurt am Main (pia) Der Mann trug das „Banner der Hoffnung“ durch die Gassen und Gaststätten der Altstadt, und unermüdlich fragte er: „Wünschen Sie meine Liebe?“ Das war kein unsittliches Angebot, auch wenn man „Die Liebe“ des Mannes durchaus für ein paar Pfennige käuflich erwerben konnte. So hieß nämlich die Zeitschrift, die der selbsternannte „Schriftsteller“ Karl Waßmann verfasste, herausgab und vertrieb. Durch den Verkauf seiner verschiedenen Blättchen finanzierte er sich; zudem warb er darin in ellenlangen Gedichten für die Kabaretts, Kaffeehäuser und Kneipen in der Altstadt, was diese ihm wiederum mit Inseraten honorierten.

Erste Schlagzeilen rund um einen Mordprozess

Als Frankfurter Original wurde Karl Waßmann zur Legende, obwohl er ursprünglich gar nicht aus der Mainstadt stammte. Vor 125 Jahren, am 25. Dezember 1885, wurde er wahrscheinlich in Berlin geboren. Für erste Schlagzeilen in eigener Sache sorgte Waßmann, als er sich in die Affäre um den Karlsruher Hau-Prozess einschaltete, die 1907 die bürgerlichen Gemüter in Deutschland erregte. Vor dem Schwurgericht war der junge Rechtsanwalt Hau lediglich aufgrund von Indizien des Mordes an seiner Schwiegermutter für schuldig befunden und zum Tode verurteilt worden, woraufhin die breite Öffentlichkeit sich mit ihm solidarisch erklärte und eine Verurteilung seiner Schwägerin Olga Molitor forderte. Sofort berief Waßmann eine Volksversammlung gegen das Urteil ein, auf der er gar den Staatsanwalt eines Liebesverhältnisses mit der „roten Olga“ bezichtigte – was ihm prompt eine Privatklage eintrug.

Barfuß unterwegs in Frankfurt

Etwa im Sommer 1909 kam Karl Waßmann nach Frankfurt, und sofort bot er auch hier – wie schon in Karlsruhe – seine Druckschriften und Gedichte in Gaststätten feil. „Aber niemand oder nur wenige kauften“, schrieb Waßmann in seinem autobiographischen Roman „Die Abenteuer des Karlchen Ungeraten“. Er „überlegte hin und her, wie er sich wohl am raschesten einführen könnte, und fand den Ausweg. Er holte sich also in einer Maskengarderobe eine dunkle Toga, die er sich anzog, und ging barfuß und barhäuptig über die Straße. Das wirkte! Innerhalb 24 Stunden war Karlchen die besprochenste Persönlichkeit von Frankfurt.“

Der „Frankfurter Salvarsanprozess“ erregt Aufsehen

Seit 1911 gab Karl Waßmann zweimal monatlich sein Blatt „Deutscher Freigeist“ heraus, eine „Frankfurter Zeitschrift für alle kulturellen Interessen“. Darin äußerte er sich unverblümt zu allen Fragen der Zeit, attackierte er heftig echte und vermeintliche Missstände, etwa die Einführung des von Paul Ehrlich erfundenen Medikaments „Salvarsan“, des ersten Heilmittels gegen die Syphilis. Waßmann prangerte an, dass Ärzte am Städtischen Krankenhaus das unzureichend erprobte und deshalb „lebensgefährliche“ Salvarsan im Interesse „gewisser profitsüchtiger Unternehmen“ gewaltsam bei Prostituierten als „Versuchskaninchen“ angewandt hätten. Dies führte zu einem Verleumdungsprozess gegen ihn, wofür die Klägerseite nicht weniger als elf Sachverständige, darunter Ehrlich selbst, mobilisierte. Zum Schluss des aufsehenerregenden „Frankfurter Salvarsanprozesses“ wurde Waßmann am 8. Juni 1914 zu einer einjährigen Gefängnisstrafe wegen schwerer Beleidigung verurteilt, obwohl er den Einwand der Zwangsbehandlung an Prostituierten nicht zu Unrecht erhoben hatte. Ausgerechnet im Zuge der Amnestie bei Beginn des Ersten Weltkriegs wurde der Pazifist aus der Haft entlassen.

Der Freigeist kandidiert für Weimar

Nach kurzem Kriegsdienst war Karl Waßmann bald wieder zurück in Frankfurt. Selbst in den Kriegsjahren ließ er seinen „Deutschen Freigeist“ nicht verstummen. Auch wenn er künftig keine Prozesse mehr provozierte, so wurde er doch nicht unpolitisch und schon gar nicht unkritisch, propagierte die „innere Demokratisierung Preußen-Deutschlands“ und forderte das Frauenstimmrecht (1917). Anfang 1919 kandidierte Waßmann, freilich erfolglos, für die verfassunggebende Weimarer Nationalversammlung. Bald darauf scheint er sein Image dem veränderten Zeitgeschmack angepasst zu haben, und aus dem „Freigeist“ wurde offenbar „Die Liebe“, sein neues „Organ im Dienste Aller“, das er auf gewohnte Weise bei seinen Altstadtrundgängen vertrieb.

Tod in der Gaskammer

Auch in den Dreißigerjahren noch konnte sich Waßmann als „der Mann, von dem man spricht“, inszenieren. So gab er 1934 ein Gastspiel im Schumanntheater, bei dem er in den Löwenkäfig stieg, und im folgenden Jahr fuhr er „vielumjubelt“ im Mainzer Rosenmontagszug mit. Die Nazis zogen den „Philosophen der Liebe“ und „Edelvagabunden vom Riederwald“, wie er sich selbst gern nannte, letztlich aus dem Verkehr - wie und warum ist allerdings unbekannt. Zeitzeugen berichten, Waßmann habe vor seiner Haustür randaliert und auf den Staat geschimpft, woraufhin er vom Fleck weg abgeführt worden sei. Es wurde erzählt, er sei nach kurzer Gestapohaft und einem Selbstmordversuch in eine „Irrenanstalt“ eingeliefert worden. Am 1. April 1941 teilte Waßmanns Frau Hanni in einer winzigen Zeitungsanzeige mit, dass ihr Mann am 30. März „seine wohlverdiente, ewige Ruhe gefunden“ habe: „Einäscherung und Beisetzung fanden in Hartheim bei Linz (Donau) statt.“ Hartheim war eine der berüchtigten NS-Tötungsanstalten. Wahrscheinlich wurde Karl Waßmann dort im Zuge der „Euthanasie“ in der Gaskammer ermordet.

Sabine Hock

Service PRESSE.INFO, hg. v. Presse- und Informationsamt der Stadt Frankfurt am Main, Feature vom 16.12.2010

Seitenanfang