Der Kulturdezernent schickte alle nach Hause

Der Frankfurter Theaterskandal um Fassbinders Stück „Der Müll, die Stadt und der Tod“ vor 25 Jahren

- Langfassung -

Am 31. Oktober 1985 erreichte der Theaterskandal um Rainer Werner Fassbinders „Der Müll, die Stadt und der Tod“ seinen Höhepunkt. Die geplante Uraufführung des umstrittenen, als antisemitisch gewerteten Stücks im Frankfurter Kammerspiel des Schauspielhauses scheiterte an diesem Abend an einer Bühnenbesetzung auf Initiative der Jüdischen Gemeinde.

Ein Donnerstagabend im Oktober. Die Städtischen Bühnen sind von der Polizei für den Verkehr abgeriegelt. Vor dem Kammerspiel, an der Rückfront des Theaters, drängen sich etwa 1.000 Demonstranten mit Transparenten wie „Wehret den Anfängen!“. Unter ihren Sprechchören und Beschimpfungen suchen sich die Theaterbesucher den von Metallgittern abgesperrten Weg zum Eingang. Auf dem Spielplan steht die Uraufführung des Stücks „Der Müll, die Stadt und der Tod“ von Rainer Werner Fassbinder. Als der Vorhang aufgeht, betreten sofort mehr als zwei Dutzend Männer und Frauen aus dem Zuschauerraum die Bühne, darunter Ignatz Bubis, der Repräsentant der Jüdischen Gemeinde. Sie entfalten ein Transparent mit der Aufschrift „Subventionierter Antisemitismus“ und erklären die Bühne für besetzt, um dadurch die Aufführung eines Stückes zu verhindern, das eine Beleidigung und Diffamierung aller jüdischen Bürger der Stadt sei. Im Zuschauerraum entbrennt eine heftige Diskussion zwischen Befürwortern und Gegnern der Aufführung, die sich über mehrere Stunden erstreckt. Mit Anbruch des neuen Tages um Mitternacht sieht der Regisseur Dietrich Hilsdorf die Bühnenbesetzung als beendet an und will spielen. Da zieht Kulturdezenent Hilmar Hoffmann als Vertreter des Magistrats das Hausrecht an sich und schickt alle nach Hause. Doch vor dem Theater gehen die Diskussionen noch bis tief in die Nacht weiter.

Ein greller Bilderbogen in einer verwüsteten Stadt

Mit der gescheiterten Uraufführung vor 25 Jahren, am 31. Oktober 1985, erreichte der Theaterskandal um Fassbinders „Der Müll, die Stadt und der Tod“ seinen Höhepunkt. Bereits bei seiner Entstehung in Frankfurt war das Stück, ein greller Bilderbogen um das Strichmädchen Roma B. und den reichen Juden A., einen Immobilienspekulanten, vor dem düsteren Hintergrund einer Stadt und ihrer Verwüstung, heiß umstritten. Der Regisseur, Schauspieler und Autor Rainer Werner Fassbinder, damals schon ein Star des Neuen Deutschen Films, hatte zur Spielzeit 1974/75 die künstlerische Leitung des Theaters am Turm (TAT) in Frankfurt übernommen. Mit seiner Gruppe von Schauspielern und anderen Mitarbeitern wollte er das krisengebeutelte Haus zu einem Modelltheater nach den Grundsätzen der „Mitbestimmung“ und damit wieder zu einer der führenden deutschen Experimentierbühnen machen. Bald plante das Ensemble ein gemeinsames „Frankfurt-Stück“, das sich mit Frankfurter Problemen – wie der Immobilienspekulation im Westend – auseinandersetzen sollte. Doch die kollektive Arbeit an einem Theaterstück mit dem Titel „Bahnhofrevue“ scheiterte.

„Frankenstein am Main“

Daraufhin beschloss Fassbinder, das „Frankfurt-Stück“ selbst zu verfassen. Auf einem seiner Atlantikflüge, die er zur Flucht aus der schnell konfliktbeladenen und unbefriedigenden Arbeitssituation in Frankfurt nutzte, soll er das Stück im März 1975 „wie in Trance“ niedergeschrieben haben. Um dieselbe Zeit nutzte er den Stoff für ein Drehbuch mit Motiven aus dem Roman „Die Erde ist unbewohnbar wie der Mond“ von Gerhard Zwerenz. Im Mai 1975 begann Fassbinder am TAT mit den Proben zu dem Stück, das ursprünglich den Titel „Frankenstein am Main“ getragen hatte und nun „Der Müll, die Stadt und der Tod“ heißen sollte. Als Fassbinder kurz darauf seinen Frankfurter Vertrag zur nächsten Spielzeit endgültig kündigte, brach der Rechtsträger des TAT die Proben ab, angeblich weil die Gage für einen Schauspieler, den Darsteller des Gnomen, nicht bewilligt werden konnte. „Das Stück“, so mutmaßte aber Fassbinder damals in einem Interview, „war denen wohl... ich weiß nicht was, vielleicht zu obszön oder brisant oder was auch immer...“ Noch im Herbst desselben Jahres verfilmte er den Stoff unter dem Titel „Schatten der Engel“ in Wien. Eine der Hauptrollen, den Zuhälter Raoul (im Stück Franz B.), spielte Fassbinder selbst.

Der Vorwurf des Antisemitismus

Im März 1976 erschien „Der Müll, die Stadt und der Tod“ erstmals im Druck. Sofort wurde das Stück in der lokalen Presse in Frankfurt als antisemitisch abgestempelt, und mit seinem Artikel „Reicher Jude von links“ in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 19. März 1976 löste Joachim Fest eine Debatte aus, die jahrelang dauern sollte. Zunächst zog der Suhrkamp Verlag das Buch zurück, um den in Paris weilenden Autor erst im Nachhinein über diesen Schritt zu informieren. Fassbinder sah im Vorwurf des Antisemitismus nur einen Vorwand für etwas, dessen Absicht und Konsequenz er noch nicht begreifen könne, das aber mit ihm und seinem Werk nichts zu tun habe. Für ihn gehörte auch dieses Stück zu seinem „Projekt, den Deutschen ihre Geschichte der letzten hundert Jahre zu erzählen“ (Wolfram Schütte). Gerade mit der Figur des Herrn Müller, des unverbesserlichen Nazis und überzeugten Judenmörders, den die Stadtgesellschaft in ihrem bis zur Korruption und darüber hinaus gehenden Egoismus unbehelligt unter sich leben lässt, wollte er die Nachkriegsdeutschen treffen und wachrütteln. „Und natürlich“, so schrieb Fassbinder in einem Offenen Brief vom 28. März 1976 aus Paris, „gibt es in diesem Stück auch Antisemiten, leider gibt es sie nicht nur in diesem Stück, sondern eben beispielsweise auch in Frankfurt. Ebenso natürlich geben diese Figuren, und ich finde es eigentlich überflüssig, das zu sagen, nicht die Meinung des Verfassers wieder, dessen Haltung zu Minderheiten aus seinen anderen Arbeiten eigentlich bekannt sein sollte.“

Eine Flut von lokalen und überregionalen Diskussionen

Zu Fassbinders kurzen Lebzeiten kam keine Uraufführung von „Der Müll, die Stadt und der Tod“ zustande. Erst zwei Jahre nach seinem frühen Tod erinnerte man sich in Frankfurt an das Stück. Innerhalb weniger Monate scheiterten 1984 gleich zwei Uraufführungsversuche, wovon der zweite, eine Aufführung unter der Regie von Volker Spengler im Rohbau des U-Bahnhofs vor der Alten Oper im Rahmen der „Frankfurt Feste“, mit einem handfesten Eklat endete. Nach dem Aufführungsverbot durch den Aufsichtsrat der Alten Oper unter Oberbürgermeister Walter Wallmann und einer daran anknüpfenden heftigen Auseinandersetzung über die städtische Zensur wurde Ulrich Schwab, der Generalmanager der Alten Oper, fristlos entlassen. Das hinderte den neuen Schauspielintendanten Günther Rühle kaum ein Jahr später nicht, die Uraufführung von „Der Müll, die Stadt und der Tod“ anzukündigen. Damit löste er eine Flut von lokalen und überregionalen Diskussionen aus. Die Damen der „Women’s International Zionist Organization“ (WIZO) sammelten Unterschriften prominenter Persönlichkeiten, wie Hermann Josef Abs, Harry Buckwitz, Liesel Christ, Siegfried Unseld und Walter Wallmann, gegen die Aufführung. Die Jüdische Gemeinde kündigte Aktionen für den Premierentag an, um die Vorstellung zu verhindern. Für Zündstoff sorgte insbesondere die Figur „Der reiche Jude“, die Fassbinder anonym gelassen hatte und die nun einerseits als Verkörperung des Judentums interpretiert wurde, das in seiner Gesamtheit geschmäht werden sollte, andererseits als vermeintliches Abbild des Frankfurter Kaufmanns Ignatz Bubis gesehen wurde. Um den Diskussionen die Spitze zu nehmen, entschlossen sich Schauspiel und Verlag, die Figur auf dem Besetzungszettel als „A., genannt ‚Der reiche Jude’“ aufzulisten, analog zum Nachnamen „B.“ der beiden anderen Hauptfiguren, wie es bereits Fassbinder selbst in einer Diskussion in Wilhelmsbad 1976 angeregt und vorgesehen hatte. Doch der Skandal ließ sich nicht mehr aufhalten. Die geplante Uraufführung am 31. Oktober 1985 scheiterte an der Bühnenbesetzung durch Mitglieder der Jüdischen Gemeinde.

Der Intendant zieht die Aufführung „vorerst“ zurück

Noch wollte Intendant Rühle nicht aufgeben. Zwei weitere Aufführungstermine musste er allerdings absagen, da nicht für die Sicherheit der Zuschauer garantiert werden konnte. Am 4. November 1985 setzte er daher eine geschlossene Vorstellung an, eine angebliche „Wiederholungsprobe“, die vor 130 Kritikern und Beschäftigten des Theaters stattfand und von der Presse mehrheitlich als nicht antisemitisch beurteilt wurde. Daraufhin kündigte Rühle eine öffentliche Vorstellung für den 13. November an. Zuvor, am Gedenktag zum Pogrom vom 9. November 1938, sah sich Oberbürgermeister Walter Wallmann dem massiven Druck der jüdischen Öffentlichkeit ausgesetzt. In seiner Rede in der Westend-Synagoge erklärte er, dass er die Verhinderung der Aufführung durch Mitglieder der Jüdischen Gemeinde im Interesse der Freiheit der Kunst nicht billigen könne, obwohl er sie verstehe. Doch der Intendant entscheide allein über den Spielplan. Zwei Tage später zog Rühle, der in früheren Gesprächen mit dem Oberbürgermeister und dem Kulturdezernenten stets standhaft geblieben war, angeblich „aus eigenem Entschluss“ (so Hilmar Hoffmann) und insbesondere mit Rücksicht auf den inneren Frieden in der Stadt die Aufführung „vorerst“ zurück. Er sah, dass „die Auseinandersetzungen eine solche Verfestigung der Standpunkte erreicht haben, dass eine erkennende Wahrnehmung des Stücks nicht mehr gewährleistet ist“.

(K)eine Uraufführung am Beginn der internationalen Karriere eines Theaterstücks

Der Autor Rainer Werner Fassbinder selbst hatte verfügt, dass sein Stück „Der Müll, die Stadt und der Tod“ nur in Frankfurt, New York oder Paris uraufgeführt werden dürfte. Bald nach dem Frankfurter Theaterskandal 1985 wurde es in szenischer Lesung in Bochum, Oberhausen, Amsterdam, Köln, Osnabrück, München und vielen anderen Städten präsentiert. Seit der amerikanischen Erstaufführung in New York 1987 gab es zahlreiche Inszenierungen im Ausland, u. a. in Kopenhagen, Rotterdam, Stockholm, Göteborg, Neapel, Los Angeles, Mailand und 1999 sogar in Tel Aviv, wo das Stück ganz und gar keine Empörung auslöste. Als deutsche Erstaufführung gilt eine – wiederum von Protesten begleitete – Mülheimer Inszenierung aus dem vergangenen Jahr (1.10.2009). Zur Uraufführung von Fassbinders „Der Müll, die Stadt und der Tod“ aber wurde inzwischen jene geschlossene Frankfurter Vorstellung vom 4. November 1985 erklärt.

Sabine Hock

Eine neue Ausgabe des Stücks „Der Müll, die Stadt und der Tod“ von Rainer Werner Fassbinder, zusammen mit einem weiteren Stück („Nur eine Scheibe Brot“) und einer ausführlichen Dokumentation, ist kürzlich im Verlag der Autoren, Frankfurt am Main, erschienen.

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