Der hessische Molière

Zum 70. Geburtstag von Wolfgang Deichsel

- Langfassung -

Der Begriff für seine bekanntesten Werke ist zum Ehrentitel für den Autor geworden: „Der hessische Molière“ – das ist Wolfgang Deichsel. „Der hessische Molière“ – das war ein Experiment. Zuvor hatte niemand gewagt, einen Klassiker im Dialekt zu bringen. Für das Frankfurter Theater am Turm (TAT) schuf Wolfgang Deichsel 1969/70 den ersten Molière auf hessisch. Der Autor selbst war sich nicht sicher, ob der Versuch glücken könnte. Doch beim Schreiben merkte er bald, dass das Stück durch den Dialekt nicht zur albernen Parodie heruntergezogen wurde, sondern „eine neue Dimension gestischer Sprache“ gewann. Aus dem Widerspruch zwischen der klassischen Form und deren Ausfüllung mit konkreter, mundartlicher Sprache „ergab sich eine komische Wirklichkeit, eine szenische Realität“, wie der Dramatiker sie gesucht hatte. Am 25. November 1970 wurde die hessische „Schule der Frauen“ am TAT uraufgeführt. Bald ließ Deichsel weitere Übertragungen von Molière in den hessischen Dialekt folgen: „Tartüff“ (1972), „Der Menschenfeind“ (1972) und später „Der eingebildet Kranke“ (2001). Seit 2005 hat der hessische Molière sogar sein eigenes Festival, das sommerliche Freilichtspektakel „Barock am Main“ vor historischer Kulisse im Bolongarogarten, das mitsamt seinem Autor Wolfgang Deichsel und dessen kongenialem Hauptdarsteller Michael Quast schnell zum Kult wurde.

Jetzt feiert Wolfgang Deichsel seinen 70. Geburtstag. Als Sohn eines Kriminalbeamten und einer Klavierlehrerin wurde er am 20. März 1939 in Wiesbaden geboren. Schon die Geschichte von seiner Geburt gerät zu einer für den späteren Schriftsteller typischen Szene, die ganz harmlos und heiter beginnt – bis einem das Lachen im Halse stecken bleibt. „Als man“, so erzählt der Dramatiker selbst die Anekdote, „Wilhelm D., dem Vater von Deichsel, in der Klinik Rotes Kreuz in der Landeshauptstadt W. zum erstenmal den Sohn vorzeigte, kniff der Neugeborene mit schalkhafter Grimasse ein Auge zu. ‚Das wird ein Komiker’, rief erfreut der Vater, der selbst früher Schauspieler gewesen war und sich auch in seinem Hauptberuf, dem des Kriminalisten, bei der hessischen Polizei als Alleinunterhalter beliebt gemacht hatte. Kurz darauf stellte sich heraus, daß das Kind linksseitig gelähmt war.“

Während seiner Gymnasialzeit in Wiesbaden wirkte Wolfgang Deichsel beim Schultheater mit, für das er erste eigene Stücke schrieb. So verfasste er 1955 die Märchenbearbeitung „Die kluge Else“, sein erstes „Schicksalsdrama am Küchentisch“ und zugleich seine erste Arbeit im hessischen Dialekt. Außerdem konzipierte er schon damals einige Alltagsszenen in hessischer Mundart, die er viel später – mittlerweile Student der Germanistik und Mitarbeiter der Studiobühne in Marburg – niederschrieb. Daraus entwickelte er im Laufe der Zeit die komische Szenenfolge „Bleiwe losse“, deren erste beide Teile, zunächst als Hörspiel, am 30. Dezember 1965 herauskamen. Die Szenen zeigen den ganz normalen Wahnsinn des kleinbürgerlichen Alltags, in den plötzlich das mühsam Verdrängte einbricht und den Wunsch nach Veränderungen weckt – dessen Verwirklichung die nicht-handelnden Personen dann doch lieber „bleiwe losse“. „Dies hat oft etwas von den schein-logischen Absurditäten Karl Valentins“, konstatierte der Theaterkritiker Georg Hensel, „nur kommt es im hessischen Idiom daher: Becketts Endspiele ereignen sich bei den Hesselbachs.“

„Bleiwe losse“ wurde offenbar Deichsel selbst zum Signal. Wohl kurz nach Vollendung der ersten Szenen schmiss er 1965 seine Dissertation über „Die Gebärde in Kleists ‚Prinz von Homburg’“ endgültig hin, um sich ganz dem Theater zu widmen. Er ging nach Berlin, wo er bei Fritz Kortner am Schiller-Theater hospitierte. Auf dem Programm stand Molière, „Der eingebildete Kranke“, mit Curt Bois in der Titelrolle. „Bei Kortner und Bois“, notierte Deichsel, „fand ich zum ersten Mal (weil ich das Brechttheater noch nicht kannte) ausgeprägt und groß: die gestische Dimension der Sprache, die sprachliche Dimension der Geste.“ Für Curt Bois übersetzte Deichsel erstmals Molière, die Komödie „Der Bürger als Edelmann“, die in dieser Fassung 1968 am Schiller-Theater in Berlin herauskam. Im selben Jahr wurde Deichsels eigene Posse „Agent Bernd Etzel“ uraufgeführt, für deren Inszenierung am TAT 1969 der Autor nach Frankfurt kam. Hier gehörte er künftig zu den Gründungsmitgliedern des Verlags der Autoren (1969) und zum Direktorium des TAT (1970-1974).

„Es muß mehr Unterhaltung in das westdeutsche Theater!“, forderte Wolfgang Deichsel 1971 programmatisch. Diesen Anspruch erfüllte er vor allem mit seinen Werken im hessischen Dialekt, zunächst mit den ersten drei Komödien zum hessischen Molière und der Bühnenfassung von „Bleiwe losse“, die er Schlag auf Schlag von 1970 bis 1972 herausbrachte. Sein erfolgreichstes Stück wurde die Komödie „Loch im Kopp“ nach Motiven von Labiche (1976), die mit Günter Strack in der Hauptrolle auch für das Fernsehen aufgezeichnet wurde. Bei der Neuproduktion von „Bleiwe losse“ am Schauspiel Frankfurt 1989 trat Wolfgang Deichsel erstmals im Schauspielerteam mit Hildburg Schmidt und Michael Quast auf. Die Gruppe begann, ihren eigenen, komödiantischen und mimisch grotesken Aufführungsstil zu entwickeln. Bei den Burgfestspielen von Bad Vilbel bekam sie 1999 die Gelegenheit, den hessischen Molière neu zu inszenieren – mit ungeheurem Erfolg. „Das Publikum reagierte wie auf einem Rockkonzert“, erinnert sich Deichsel, „wir waren verblüfft und begeistert.“ Nach vier Vilbeler Jahren gründete das Ensemble um Deichsel schließlich das eigene Festival „Barock am Main“ für den hessischen Molière (2005).

In den vergangenen Jahren trat Wolfgang Deichsel, der als freier Schriftsteller im Rheingau lebt, durch zeitgenössische Libretti zu klassischen Opern hervor, u. a. zu Nicolais „Die lustigen Weiber von Windsor“ und zu Purcells „König Arthur“. Auch in seinem hochdeutschen Oeuvre scheint seine besondere Vorliebe aber absurden, manchmal gar makabren Stoffen zu gehören. Ein frühes Werk sind etwa seine „Materialien zu einer Theorie des Platten“, die aus einer 1959 begonnenen Sammlung in Gestalt plattgefahrener Frösche bestehen. Seit seiner Studienzeit fasziniert ihn das Frankensteinmotiv, das er in mehreren Stücken auf die moderne Welt übertragen hat. So lässt er in dem Szenenreigen „Aus dem Leben der Angestellten“ (1971) die kleinen Leute, Polizisten, Beamte, Fließbandarbeiter und Büroangestellte, als Kunstfiguren wie das Geschöpf von Doktor Frankenstein erscheinen, als entmenschte Menschen und fremdbestimmte Monster. Zum Frankensteinzyklus gehört auch die Psychokomödie „Rott. Das Monster im Verhör“ (1999), die jüngst, am 9. Januar 2009, ihre Frankfurter Erstaufführung erlebte. Eher kurios mutet dagegen das Werk „Körperteile berühmter Männer“, eigentlich ein Studentenscherz, an. Auf dem „Fest für Deichsel“, das die Fliegende Volksbühne Frankfurt, der Verlag der Autoren und die Deutsche Nationalbibliothek zum 70. Geburtstag des Schriftstellers veranstalten, wird dieser Text von bekannten Frankfurtern dargeboten.

Sabine Hock

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