Ein Arztintellektueller aus Frankfurt

Zum 100. Geburtstag von Alexander Mitscherlich

Der Mediziner und Gründungsdirektor des Sigmund-Freud-Instituts (SFI) in Frankfurt etablierte die in der NS-Zeit verfemte Psychoanalyse in der Bundesrepublik. In viel beachteten Schriften hat er sich als Sozialpsychologe auch mit gesellschaftlichen Themen der Nachkriegszeit auseinandergesetzt. Am 20. September wäre Alexander Mitscherlich 100 Jahre alt geworden.

Frankfurt am Main (pia) Der Professor saß nicht im Elfenbeinturm. Er wohnte lieber im Hochhaus. Als Alexander Mitscherlich 1967 zum Ordinarius für Psychologie an die Fankfurter Universität berufen wurde, lehnte er die angebotene Vorstadtvilla ab. „Das Hochhaus“, so erinnerte sich seine Frau und Mitarbeiterin Margarete Mitscherlich einmal, „versprach Begegnung mit anderen Menschen“, während dem Forscherehepaar die Vorstadt mit den vom „Komfortgreuel“ geprägten „Einfamilienweiden“ eher „trostlos“ schien. Gerade in der zwei Jahre zuvor publizierten Streitschrift „Die Unwirtlichkeit unserer Städte“ hatte sich Mitscherlich gegen die Zersiedelung der Stadt und ihres Umlands durch Einzelhäuser ausgesprochen. Hier wie in all seinen Schriften entwarf der Sozialpsychologe keine weltfremden Utopien. Was er verlangte, lag im Bereich des Möglichen. Gerade das machte ihn für seine Zeitgenossen so unbequem. Doch er zog die Konsequenzen auch für sich. Erst im März 1979, aufgrund seiner fortschreitenden Erkrankung, gaben er und seine Frau die im 19. Stock gelegene Wohnung in Höchst auf.

Gründungsdirektor des Sigmund-Freud-Instituts

Vor 100 Jahren, am 20. September 1908, wurde Alexander Mitscherlich in München geboren. Der Mediziner, Gründungsdirektor des Sigmund-Freud-Instituts (SFI) in Frankfurt, erreichte die wissenschaftliche Etablierung der in der NS-Zeit verfemten Psychoanalyse in der Bundesrepublik Deutschland. Als Sozialpsychologe übertrug er seine psychoanalytischen Erkenntnisse gesellschaftskritisch auf die Zustände der Nachkriegszeit. Seine Schriften, etwa „Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft“ (1963), „Die Unwirtlichkeit unserer Städte“ (1965) und „Die Unfähigkeit zu trauern“ (mit Margarete Mitscherlich, 1967), bestimmten den Diskurs der sechziger und siebziger Jahre. Mit der „Ambivalenz des medizinisch-technischen Fortschritts“, einem seiner wichtigsten Themen, setzt sich jetzt eine internationale wissenschaftliche Konferenz auseinander, die das SFI aus Anlass des 100. Geburtstags von Alexander Mitscherlich vom 25. bis 29. September in Frankfurt veranstaltet. Als Auftakt zu der hochkarätig besetzten Tagung wird am Abend des 25. September die soeben erschienene, umfangreiche Mitscherlich-Biografie „Im Getümmel der Welt“ von Timo Hoyer, einem Mitarbeiter des Instituts, vorgestellt. Der folgende erste Konferenztag (26.9.) ist ganz Mitscherlichs Leben und Werk gewidmet.

Beobachter und Sachverständiger bei den Nürnberger Ärzteprozessen

Einst hatte Alexander Mitscherlich erst auf Umwegen zu seiner Berufung gefunden. Entgegen der Tradition der Naturwissenschaften in der Familie studierte er zunächst Geschichte, Kunstgeschichte und Philosophie in München. Nach dem Abbruch dieses Studiums eröffnete er in Berlin eine Buchhandlung, die von der SA 1935 geschlossen wurde. Noch in Berlin hatte er eher halbherzig ein Medizinstudium begonnen, das er nun in Zürich fortsetzte. Wegen Mitarbeit im Widerstand wurde er bei einer Fahrt durch Deutschland 1937 von der Gestapo verhaftet und einige Monate gefangen gehalten. Danach schloss er sein Studium in Heidelberg ab. Seit 1941 arbeitete er als Neurologe an der dortigen Universität, wo er sich 1946 auch habilitierte und seit 1949 die spätere Klinik für psychosomatische Medizin aufbaute. Als Beobachter und Sachverständiger erlebte er seinerzeit die Nürnberger Ärzteprozesse. Daraufhin publizierte er, zusammen mit Fred Mielke, die Dokumentation „Wissenschaft ohne Menschlichkeit“ (später „Medizin ohne Menschlichkeit“, 1949) über die Menschenversuche im „Dritten Reich“, was ihm als angeblichem „Nestbeschmutzer“ den Zorn einiger Standeskollegen einbrachte.

Verbindung von Psychoanalyse und Sozialpsychologie

Anlässlich von Freuds 100. Geburtstag 1956 kam Mitscherlich zu einer akademischen Feier nach Frankfurt, die den entscheidenden Impuls zur Wiedererrichtung einer psychoanalytischen Forschungs- und Ausbildungsstätte mit Sitz in der Mainstadt gab. Bereits seit 1929 hatte es hier das „Frankfurter Psychoanalytische Institut“ gegeben, das sich nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 auflösen musste. Nun gründete Mitscherlich, unterstützt insbesondere von Max Horkheimer, dem Leiter des Instituts für Sozialforschung, und Georg August Zinn, dem Ministerpräsidenten des Landes Hessen, das „Institut und Ausbildungszentrum für Psychoanalyse und Psychosomatik“, das er seit der Eröffnung im April 1960 leitete. An dem Institut, das als „Sigmund-Freud-Institut“ (SFI) 1964 einen Neubau im Westend bezog, entwickelte er damals einzigartige Forschungsprojekte, in denen er die Psychoanalyse mit sozialpsychologischen Fragen verband. Auf dieser Basis verfasste der Arztintellektuelle in jenen Jahren seine wichtigsten und vielbeachteten Schriften, in denen er etwa den Umgang mit der NS-Vergangenheit, den Wiederaufbau der Städte und die Rolle der Aggression in den Folgen für die Nachkriegsgesellschaft kritisch analysierte. Im Blickpunkt der aktuellen Arbeit des SFI stehen Themen wie die Zunahme klinisch relevanter Depressionen, die steigende Gewaltneigung von Kindern und Jugendlichen sowie das Wiederaufleben von Rechtsradikalismus, Antisemitismus und Fremdenhass.

In Frankfurt fühlte er sich zu Hause

Auch nach der Pensionierung als erster Direktor des SFI 1976 blieb Alexander Mitscherlich, der mit seiner Berufung zum ordentlichen Professor für Psychologie an die Johann Wolfgang Goethe-Universität 1967 ganz nach Frankfurt übergesiedelt war, der Stadt treu. Hier, wo er sich nach eigener Aussage inzwischen „als Bürger (...) am meisten zu Hause“ fühlte, ist Alexander Mitscherlich nach langer Krankheit am 26. Juni 1982 gestorben.

Sabine Hock

Weitere Informationen zum Sigmund-Freud-Institut, u. a. mit dem ausführlichen Programm der „Internationalen wissenschaftlichen Konferenz zu Ehren von Alexander Mitscherlich“ (25.- 29.9.2008), unter: www.sfi-frankfurt.de

Die neue Biografie „Im Getümmel der Welt - Alexander Mitscherlich - Ein Porträt“ von Timo Hoyer ist soeben im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, erschienen und zum Preis von 39,90 Euro im Buchhandel erhältlich.

Service PRESSE.INFO, hg. v. Presse- und Informationsamt der Stadt Frankfurt am Main, Feature vom 09.09.2008

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