Ein unbequemer Akademiker

Zum 25. Todestag von Alexander Mitscherlich

Nach dem Krieg etablierte er die in der NS-Zeit verfemte Psychoanalyse in der Bundesrepublik Deutschland. Alexander Mitscherlich, der Verfasser der Streitschrift über „Die Unwirtlichkeit unserer Städte“, wohnte viele Jahre in einem Frankfurter Hochhaus. Vor 25 Jahren ist der Gründungsdirektor des Frankfurter Sigmund-Freud-Instituts in der Mainstadt gestorben.

Frankfurt am Main (pia) Dieser Professor lebte seine Lehre. Als Alexander Mitscherlich 1967 zum Ordinarius für Psychologie an die Frankfurter Universität berufen wurde, zog er mit seiner Frau und Mitarbeiterin Margarete in eine Hochhauswohnung in Höchst. Die angebotene Vorstadtvilla lehnten sie ab. „Das Hochhaus versprach Begegnung mit anderen Menschen“, erinnerte sich Margarete Mitscherlich einmal, während ihnen die Vorstadt mit den vom „Komfortgreuel“ geprägten „Einfamilienweiden“ eher „trostlos“ schien. In seiner zwei Jahre zuvor publizierten Streitschrift „Die Unwirtlichkeit unserer Städte“ hatte sich Mitscherlich gegen die Zersiedelung der Stadt und ihres Umlands durch Einzelhäuser ausgesprochen: „Die Unwirtlichkeit unserer wiedererbauten, unentwegt in die Breite verfließenden statt kühn in die Höhe konstruierten, monoton statt melodisch komponierten Städte drückt sich in deren Zentrum ebenso aus wie an der Peripherie.“ Hier wie in all seinen Schriften entwarf der Sozialpsychologe keine weltfremden Utopien. Was er verlangte, lag im Bereich des Möglichen. Gerade das machte ihn für seine Zeitgenossen so unbequem. Doch er zog die Konsequenzen aus seiner Lehre auch für sich. Erst im März 1979, nach seiner Erkrankung, gaben er und seine Frau die im 19. Stock gelegene Wohnung auf. Das kürzlich sanierte Hochhaus in Höchst, in dem die Mitscherlichs einst wohnten, trägt seit Januar diesen Jahres den Namen des Forscherehepaars.

Vor 25 Jahren, am 26. Juni 1982, ist Alexander Mitscherlich in Frankfurt gestorben. Der Mediziner, Gründungsdirektor des Sigmund-Freud-Instituts in Frankfurt, erreichte die wissenschaftliche Etablierung der in der NS-Zeit verfemten Psychoanalyse in der Bundesrepublik Deutschland. Als Sozialpsychologe übertrug er seine psychoanalytischen Erkenntnisse gesellschaftskritisch auf die Zustände der Nachkriegszeit. Seine Schriften, etwa „Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft“ (1963), „Die Unwirtlichkeit unserer Städte“ (1965) und „Die Unfähigkeit zu trauern“ (mit Margarete Mitscherlich, 1967), bestimmten den Diskurs der sechziger und siebziger Jahre. Sein wissenschaftlicher Nachlass, darunter die Manuskripte seiner wichtigsten Werke, befindet sich heute im Archivzentrum der Universitätsbibliothek in Frankfurt. Dort wird derzeit eine Würdigung für Alexander Mitscherlich vorbereitet, wahrscheinlich in Form von einer Ausstellung und einer Publikation, pünktlich zu seinem 100. Geburtstag im kommenden Jahr.

Am 20. September 1908 wurde Alexander Mitscherlich in München geboren. Entgegen der Tradition der Naturwissenschaften in der Familie studierte er zunächst Geschichte, Kunstgeschichte und Philosophie in München. Als sein Doktorvater Paul Joachimsen 1930 starb und ein anderer Professor sich weigerte, die Arbeiten seines jüdischen Kollegen weiter zu betreuen, so stellt es Mitscherlich in seiner Autobiographie dar, brach er das Studium ab. In Berlin eröffnete er eine Buchhandlung, die von der SA 1935 geschlossen wurde. Eigentlich eher halbherzig hatte Mitscherlich noch in Berlin ein Medizinstudium begonnen, das er zunächst in Zürich fortsetzte. Wegen Mitarbeit im Widerstand wurde er bei einer Fahrt durch Deutschland 1937 von der Gestapo verhaftet und einige Monate gefangen gehalten. Danach schloss er sein Studium in Heidelberg ab. Seit 1941 arbeitete er als Neurologe an der dortigen Universität, wo er sich 1946 auch habilitierte. Als Beobachter und Sachverständiger erlebte er damals die Nürnberger Ärzteprozesse. Daraufhin publizierte er, zusammen mit Fred Mielke, die Dokumentation „Wissenschaft ohne Menschlichkeit" (später „Medizin ohne Menschlichkeit“, 1949) über die Menschenversuche im „Dritten Reich“, was ihm als angeblichem „Nestbeschmutzer“ den Zorn seiner Standeskollegen einbrachte.

Im Jahr 1959 gründete Mitscherlich, unterstützt insbesondere von Max Horkheimer, dem Leiter des Instituts für Sozialforschung, und Georg August Zinn, dem Ministerpräsidenten des Landes Hessen, das „Sigmund-Freud-Institut“ in Frankfurt, das er seit der Eröffnung 1960 leitete. An dem bis heute bestehenden Institut entwickelte er damals einzigartige Forschungsprojekte, in denen er die Psychoanalyse mit sozialpsychologischen Fragen verband. Auf dieser Basis verfasste der Arztintellektuelle in jenen Jahren seine wichtigsten und viel beachteten Schriften, in denen er etwa den Umgang mit der NS-Vergangenheit, den Wiederaufbau der Städte und die Rolle der Aggression in den Folgen für die Nachkriegsgesellschaft kritisch analysierte.

Mit seiner Berufung zum ordentlichen Professor für Psychologie an die Philosophische Fakultät der Johann Wolfgang Goethe-Universität 1967 übersiedelte Mitscherlich ganz nach Frankfurt. Hier erfuhr der unbequeme Akademiker endlich auch äußere Anerkennung, zuerst durch den renommierten Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (1969), den er ohne Zögern an Amnesty International stiftete. Selbst nach seiner Pensionierung als Direktor des Sigmund-Freud-Instituts 1976 blieb Mitscherlich in der Mainstadt, wo er sich - wie er selbst einmal an den Oberbürgermeister schrieb - inzwischen „als Bürger (...) am meisten zu Hause“ fühlte. Die ihm angetragene Ehrenbürgerschaft lehnte er 1976 freilich ab, da gleichzeitig der damals wegen eines Bestechungsskandals heftig umstrittene IHK-Präsident Fritz Dietz damit ausgezeichnet werden sollte. Auch in diesem Fall blieb Mitscherlich sich treu.

Sabine Hock

Wochendienst, hg. v. Presse- und Informationsamt der Stadt Frankfurt am Main, Nr. 24 vom 19.06.2007

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