Die Heimkehr der Frankfurter Mona Lisa

Courbets rätselhafte „Dame de Francfort“ ist derzeit im Städel zu sehen

Zu gerne würde die Betrachterin einmal unhöflich sein und ihr Gegenüber einfach ansprechen. Da sitzt sie, die vornehme Dame mit dem wallenden kastanienbraunen Haar und dem üppigen weißen Kleid, vor einem Sorbet auf der Terrasse, ganz in sich versunken, so dass die Voyeurin schließlich doch beschämt den Blick wegschweifen lässt, über das Eisengeländer durch den dahinter liegenden Landschaftspark bis zu der Hügelkette am Horizont. Die Dame würde ihr Geheimnis ohnehin nicht preisgeben. Keiner weiß, wer sie ist und wo sie sitzt - auch wenn sie ganz bestimmt aus Frankfurt kommt. Gustave Courbet hat die „Dame auf der Terrasse“ während seines hiesigen Aufenthalts im Herbst 1858 gemalt. Jetzt ist die unbekannte Schönheit in die Stadt ihres Ursprungs zurückgekehrt. Courbets Gemälde hängt derzeit im Städel, in der Ausstellung „Gärten: Ordnung - Inspiration - Glück“, die noch bis zum 11. März 2007 zu sehen ist.

In Frankfurt hatte Gustave Courbet (1819-1877) früh Freunde seiner Kunst gefunden. Bereits im März 1852 ließ der seinerzeit sehr umstrittene Maler in der Frankfurter Lederhalle in der heutigen Hasengasse zwei seiner Gemälde zeigen, „Die Steinklopfer“ (1849) und „Ein Begräbnis in Ornans“ (1850), die wegen ihrer realistischen Darstellung in Frankreich äußerst provokant gewirkt hatten. Auch in Frankfurt erregten sie so großes Aufsehen, dass im Casino sogar ein Schild gehangen haben soll: „Es ist verboten, hier über Herrn Courbet zu sprechen.“ Nach weiteren Ausstellungen, zuletzt im Kunstverein im Januar 1858, kam Courbet selbst im August 1858 zu einem sechsmonatigen Aufenthalt nach Frankfurt, wo er zunächst in einem Atelier des Städel'schen Kunstinstituts, wahrscheinlich im Deutschordenshaus auf der Sachsenhäuser Mainseite, arbeitete. Infolge eines Zerwürfnisses mit dem Städelprofessor Jakob Becker zog er in ein Atelier im Kettenhofweg 44, in einem Haus mit Viktor Müller und Angilbert Göbel, die und deren Kreis junger Frankfurter Maler er prägend beeindruckte. Insgesamt schuf Courbet in Frankfurt zwölf Bilder, darunter das Ölgemälde „La Dame de Francfort“ oder „Dame auf der Terrasse“, das wahrscheinlich im Auftrag eines wohlhabenden Frankfurter Bürgers entstand.

Bekannt als leidenschaftlicher Jäger, hatte Courbet bald Zugang zur besseren Frankfurter Gesellschaft gefunden. Er wurde oft zur Jagd im Taunus oder Spessart eingeladen und konnte sich sogar rühmen, am Sylvesterabend 1858 „einen riesigen Hirsch“ erlegt zu haben, einen Zwölfender, wie er angeblich seit über 25 Jahren nicht mehr in Deutschland geschossen worden war. Aus den Kreisen der vermögenden Jagdfreunde dürfte die gesuchte Dame stammen, worauf auch der Hund, ein edles Windspiel, auf der Terrasse hinweist. Möglicherweise gehörte die Frau zur Familie des Bankiers Raphael von Erlanger, die der Maler wohl schon zwei Jahre zuvor in Baden-Baden kennengelernt hatte. Courbet soll Erlangers Gattin „in Zigeunerinnentracht“ porträtiert haben, was jedoch nur literarisch bezeugt ist, so dass die beiden Bildnisse nicht verglichen werden können. Auch könnte der Künstler die Dame auf der Terrasse für Erlangers Sohn Wilhelm gemalt haben, sozusagen als Brautbild anlässlich von dessen bevorstehender Hochzeit mit Caroline von Bernus (1859), wozu das weiße Sommerkleid der Dame passen würde. Selbst wenn gelegentlich Namen anderer Frankfurter Familien (wie z. B. Goldschmidt) ins Spiel gebracht wurden, so favorisierte die Kunstgeschichte lange eine Frau aus der Familie von Erlanger als Courbets Dame.

Bis der Lokalforscher Alfred Andreae-von Neufville sich in die Diskussion einschaltete, um das berühmte Gemälde in seiner eigenen Familiengeschichte zu verorten. Er identifizierte die Dame als seine Urgroßtante Pauline Pose geb. Klotz, die Ehefrau des Malers Eduard Wilhelm Pose, die auf der Terrasse ihres Elternhauses Hochstraße 24 in den Wallanlagen sitzen sollte. Leider konnte sich Andreae nicht auf eine Überlieferung seiner Familie stützen, sondern er sammelte Indiz für Indiz, um daraus eine auf den ersten Blick recht schlüssige Beweiskette zusammenzufügen. Die Kunsthistorikerin Bettina Erche folgte Andreaes Version, die sie in einem von ihr selbst so bezeichneten „Spiel der Vermutungen“ (FAZ vom 11.11.2000) gar bis zur Konsequenz des Ehebruchs von Pauline mit Courbet weiterspann. Als Indiz auf dem Gemälde diente Erche dafür der Mann, der einst mit der Dame am Tischchen auf der Terrasse saß und dann vom Künstler selbst so notdürftig übermalt wurde, dass er durch die oberste Malschicht (noch oder wieder) hindurchwächst. Dieser kaum erkennbare Herr, so Erche, sollte Pose sein, Paulines „lästiger Ehemann“, den Courbet aus Rache nach einem künstlerischen oder persönlichen Zerwürfnis einfach von der Bildfläche verschwinden ließ - allerdings nicht so ganz, um den Kollegen oder Konkurrenten eben sichtbar zu brüskieren.

Der Stadthistorikerin scheint Andreaes und Erches Argumentation auch an anderen Stellen eher spekulativ. Dabei könnte Courbet das Bild wirklich vor dem Hintergrund der Wallanlagen und der dazu gehörigen Gärten gemalt haben, des ältesten Landschaftsparks in Frankfurt, angelegt ab 1806 von dem späteren Stadtgärtner Sebastian Rinz. Zweifelhaft ist, ob er es an der von Andreae vorgeschlagenen Stelle tat. Die erhaltenen Gartenansichten des kriegszerstörten Hauses Hochstraße 24 (an Stelle der heutigen freien Terrasse neben dem Hotel Hilton) stimmen, weder auf dem einigermaßen zeitgenössischen Delkeskampplan (1864) noch auf späteren Fotografien, kaum mit Courbets Bild überein: Sie zeigen einen Garten nicht im englischen, sondern eher im klassischen französischen Stil, und der von Courbet gemalte Pavillon ist nicht zu entdecken. Doch Andreae hat auch dafür Erklärungen gefunden. Etwa: Um den unliebsamen Herrn von dem Bild zu verbannen, habe Courbet „in freier Gestaltung“ einen Gartentempel an dessen Stelle gemalt. Die Vorlage dafür soll er im Mittelrisalit des nahegelegenen Leonhardi'schen Gartenhauses gefunden haben. Tatsächlich sieht dieser Teil der heute im Palmengarten stehenden „Villa Leonhardi“ ähnlich aus. Zu Courbets Zeiten gehörte der Bau übrigens zu einem Grundstück an der Bockenheimer Anlage, das im Besitz des Bankiers Raphael von Erlanger (!) war ...

Auch einen Ersatz für den fehlenden Teich im Blickfeld von der Terrasse des Hauses Hochstraße 24 hat Andreae zu bieten: Infolge starker Regenfälle im Herbst 1858 habe der über das Grundstück verlaufende Wallgraben den Garten überschwemmt. Ein Argument gegen diese eher zufällige Form der Wasseransammlung lieferte die Gartendenkmalpflegerin Barbara Vogt, die sich intensiv mit historischen Parks in Frankfurt befasst hat: In der zeitgenössischen Gartenarchitektur war es üblich, Gruppen von Nadelgehölzen an künstlichen Gewässern anzupflanzen, um dadurch eine Gebirgsatmosphäre zu erzeugen. Wahrscheinlich zeigt Courbets Gemälde eine solche bewusste Anlage der Gartenkunst, wie sie gerade in den privaten Wallgärten am Anlagenring öfter vorkam.

Als die Frankfurter Neue Presse in einem Preisausschreiben zum 100. Geburtstag von Courbets „Dame“ 1958 ihre Leser aufrief, den Entstehungsort des Bildes zu finden, tippten jedenfalls gleich mehrere Einsender auf verschiedene Plätze in den Wallgärten, u. a. auf den malerischen „du Fay'schen Garten“ auf dem Jungwall an der Neuen Mainzer Straße. Aber auch andere alte Landschaftsparks in Frankfurts Umgebung wurden genannt, u. a. der Brentanopark in Rödelheim, der Bernuspark in Bockenheim, das Hofgut Goldstein und der Günthersburgpark in Bornheim. Der Kunsthistoriker Hans Voss äußerte die seitdem oft bevorzugte Ansicht, dass das Bild auf dem Landgut St. Georgen vor Oberrad entstand. Die Dame müsste dann auf einer Terrasse vor oder seitlich der dortigen Villa sitzen, vor dem Horizont des Mühlbergs im Westen, was der Stimmung am herbstlichen Abendhimmel durchaus entspräche. Allerdings hatte der damalige Gutsbesitzer, der Bankier Georg von Saint-George, den Park erst 15 Jahre zuvor - übrigens ebenfalls von Rinz - anlegen lassen, so dass das Gelände noch nicht so eingewachsen gewesen sein dürfte wie auf Courbets Gemälde. Zudem müsste der Maler den „Schwanenteich“ von seinem historischen Platz vor der Villa auf deren Westseite „verschoben“ haben, und auch ein Gartenpavillon ist im damaligen Park St. Georgen nicht bezeugt. Und es bleibt unklar, wer die Dame sein könnte, da weder die Frau noch die verheirateten Töchter des Hauses aus Altersgründen so recht in Frage kommen. Vielleicht muss sogar damit gerechnet werden, dass Courbet das Bild überhaupt nicht in so unmittelbarer Umgebung der Stadt schuf. Immerhin nennt er es nur „Dame de Francfort“, also „Dame aus Frankfurt“, was ja nicht bedeuten muss, dass dieselbe auch in Frankfurt dargestellt wurde.

Courbet hat seine „Dame“ nur einmal ausgestellt und nie verkauft. Das deutete Erche als Zeichen, wie lieb und teuer dem Künstler das Bild und vor allem die Dargestellte gewesen sei. Vielleicht fand er aber das Gemälde, das er teilweise skizzenhaft belassen und an mehreren Stellen sichtbar kompositorisch überarbeitet hatte, auch einfach zu unvollendet. Nach dem Urteil im Vendômesäulenprozess 1871, das Courbet zur Wiedererrichtung jenes angeblich auf sein Geheiß gestürzten Monuments der Monarchie auf eigene Kosten verpflichtete, wurde die „Dame“ zusammen mit mehr als 20 anderen Werken des Meisters sequestriert. Doch kurz darauf wurden die Bilder, möglicherweise auf Courbets Anweisung, gestohlen. Sie tauchten bei einem Händler in Paris wieder auf, wo sie Courbets Freund Etienne Baudry wiederentdeckte. Im Schweizer Exil hat Courbet seine „Dame auf der Terasse“ nachträglich signiert.

Nach Courbets Tod am Sylvestertag 1877 fiel das Bild an Baudry. Er verleibte es seiner Kunstsammlung ein, die er einem Museum vermachen wollte. Doch Courbets Schwester Juliette kämpfte um das Gemälde, ein vermeintliches Lieblingsbild ihres Bruders, das nicht dazu gemalt sei, in einem französischen Museum ausgestellt zu werden. Angesichts der Flut ihrer Briefe übergab Baudry ihr schließlich 1890 das Bild. Juliette vererbte es einer Freundin, die es in Paris 1919 versteigern ließ. Als es Bild 1941 erneut zur Versteigerung kam, bemühte sich das Städel um den Erwerb, was aber durch NS-Stellen vereitelt worden sein soll. Seitdem befindet sich das Gemälde im Besitz des Wallraf-Richartz-Museums in Köln.

Zu wichtigen Ausstellungen kommt die „Dame de Francfort“ aber gern in ihre Heimatstadt, so 1978 zur großen Courbet- und jetzt zur anregenden „Gärten“-Ausstellung im Städel. Vielleicht findet ja einer der hiesigen Betrachter endlich das Mosaiksteinchen, das zur Identifizierung des Ortes und der Dame auf dem Bild führt. Doch diese Entdeckung könnte auch gar nicht wünschenswert sein. Die zauberhafte Herbststimmung des Werkes würde durch das Wissen nicht verdorben, aber das Geheimnis um Courbets Dame lässt das Bild eigentlich nur noch interessanter scheinen.

Sabine Hock

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