Der Tigerpalast der zwanziger Jahre
Vor 100 Jahren erlebte das Schumanntheater seine Premiere
Schräg gegenüber vom Hauptbahnhof stand der prachtvolle Bau mit der Jugendstilfassade. Das Schumanntheater, am 5. Dezember 1905 feierlich eröffnet, war bis zu seiner Zerstörung 1944 eine der international bedeutendsten Unterhaltungsbühnen. Die Crème de la crème der Zirkus- und Varietékünstler trat hier vor bis zu 5000 Zuschauern auf.
Frankfurt am Main (pia) Schon die allererste Vorstellung war ein glänzender Erfolg. Nachdem die Hauskapelle zum musikalischen Auftakt den Marsch aus „Tannhäuser“ gespielt hatte, wurde ein erstklassiges buntes Programm geboten, u. a. mit der Verwandlungssoubrette Aurora Castilla, der oberbayrischen Trachtengruppe „Die Obersteirer“ und Billie Reeves, dem „populärsten Komiker Amerikas“, sowie den drei Schwestern Ernesto auf dem Doppelseil, den Kopfequilibristen Gebrüder Willé und den „Australian comedy acrobats“. Oberbürgermeister Franz Adickes war so begeistert von dem Debüt, dass er wenige Tage später im Stadtparlament verkündete, erst durch das Schumanntheater sei Frankfurt zur Großstadt geworden.
Vor 100 Jahren, am 5. Dezember 1905, wurde die Premiere des Schumanntheaters gefeiert. Damit erfüllte sich Zirkusdirektor Albert Schumann in Frankfurt seinen Traum. Er hatte sich einen festen Bau gewünscht, wie ihn damals in Deutschland nur Renz in Berlin besaß. Innerhalb von nur vierzehn Monaten wurde das imposante Zirkus- und Theatergebäude nach den Plänen der Berliner Architekten Friedrich Kristeller und Hugo Sonnenthal am Bahnhofsvorplatz errichtet. Allein das fast zwei Millionen Mark teure Bauwerk an sich war eine besondere Attraktion. Die reich geschmückte Jugendstilfassade, ganz in weißem Sandstein ausgeführt, erhielt ihr charakteristisches Gepräge durch zwei Ecktürme, die das Portal flankierten. Auf der Dachkante über dem Eingang erhob sich, bewacht von zwei steinernen Löwen, die kupferne Figurengruppe eines römischen Rossebändigers mit zwei feurigen Pferden. Den ersten Entwurf dafür hatte der Zirkusdirektor höchstpersönlich abgelehnt. Schumann, für seine Pferdedressurakte weltberühmt, hatte nämlich sofort gesehen, dass der Rossebändiger in der vorgeschlagenen Pose von seinen Pferden zerdrückt und zu Tode geschleift worden wäre. Sogleich führte er mit zwei lebenden Pferden vor, wie die Statue richtig auszusehen hätte. Der Bildhauer korrigierte den Entwurf, und sein neuer Rossebändiger wurde zum Wahrzeichen des „Schumann“.
Hinter dem prägnanten Kopfbau, in dem u. a. ein Café, ein Weinrestaurant und ein „Biertunnel“ untergebracht waren, erstreckte sich auf einer Grundfläche von 3.450 Quadratmetern das eigentliche Theater. Bis zu 5.000 Zuschauer hatten in dessen Großem Saal unter der 28 Meter hohen Kuppel Platz. Damit sich der Betrieb lohnte, sollte im neuen Schumanntheater künftig jährlich zehn Monate lang Varieté, einen Monat Zirkus und einen Monat Operette gegeben werden. Innerhalb von nur zwei Tagen konnte deshalb der Zuschauerraum vom Theater- auf den Zirkusbetrieb, von der Bühne zur Manege, umgebaut werden. Auch sonst war der Saal mit allen möglichen technischen Raffinessen ausgestattet – bis hin zu einem Bassin für wasserpantomimische Darbietungen. Unter dem monumentalen Gebäudekomplex zogen sich riesige Stallungen für bis zu 150 Pferde hin.
Direktor Julius Seeth, selbst sensationeller Löwendompteur, holte bald die Crème de la crème der Zirkus- und Varietékünstler aus aller Welt nach Frankfurt. Bis zum Ersten Weltkrieg kam auch Albert Schumann mit seinem Zirkus noch fast alljährlich in sein Traumtheater. Die Attraktion seines Programms war seine Tochter Dora, damals eine echte Beauté der Manege, die er selbst zur „besten Schulreiterin der Welt“ ausgebildet hatte. In den zwanziger Jahren rentierte sich der Zirkusbetrieb im „Schumann“ aber nicht mehr. Das Haus entwickelte sich zum reinen Großvarieté. Otto Reutter und Claire Waldoff sangen hier ihre Couplets, die Pawlowa tanzte, Enrico Rastelli jonglierte, die Codonas flogen unter der hohen Kuppel im Dreifachsalto ans Trapez, die Fratellinis und die Rivels machten ihre Späße, und Clown Grock meinte zu all dem: „Nit mööööglich!“
1932/33 wurde das Schumanntheater endgültig zur Varieté- und Operettenbühne umgebaut und modernisiert. Die Direktion übernahm 1934 Hans Maier, der Organisator der „Maier Gustl’schen Gaststättenbetriebe“. Noch konnte er mit internationalen Sensationen aufwarten. In den dreißiger Jahren wagte etwa Cubano den Todessprung aus der Kuppel, in einem „Frauenprogramm“ trat Koringa auf, „der einzige weibliche Fakir der Welt“, und Charlie Rivel kam mit seinem Solo: „Akrobat? - Schööön!“ Spätestens seit Kriegsbeginn musste sich die Bühne jedoch auf deutsche Künstler beschränken. Das Varieté verlor an Glanz, spielte aber unverdrossen weiter. Bei dem Luftangriff vom 22. März 1944 wurde der gesamte hintere Trakt des Schumanntheaters mit Bühne und Zuschauerraum zerstört. Den erhaltenen Kopfbau mit den Restaurationsräumen beschlagnahmte 1945 die amerikanische Besatzungsmacht. Als die Amerikaner das Gebäude 1958 räumten, hofften viele Frankfurter auf den Wiederaufbau des Schumanntheaters. Doch 1961 wurden dessen Reste mitsamt der schönen Jugendstilfassade abgerissen.
Sabine Hock
Wochendienst, hg. v. Presse- und Informationsamt der Stadt Frankfurt am Main, Nr. 46 vom 22.11.2005