„Unser Vater hatte vor nichts Angst“
Der führende Frankfurter Wissenschaftsverlag Vittorio Klostermann feiert Jubiläum
Der führende geisteswissenschaftliche Verlag der Republik residiert in einer schicken Villa im Frankfurter Westend. Zu seinen Autoren gehören Heidegger ebenso wie die jungen Stars der Philosophie. Am 1. Oktober wird der Verlag Vittorio Klostermann 75 Jahre alt.
Frankfurt am Main (pia) Auch Bücher haben ihre Schicksale. Da kann manchmal der beste Verleger nichts machen. Ausgerechnet das Buch, das ihm immer das wichtigste seiner „Verlagskinder“ war, konnte Vittorio Klostermann erst auf Umwegen herausbringen. Das 1939 abgeschlossene Werk „Die Perfektion der Technik“ von Friedrich Georg Jünger war zwar bald gedruckt, aber bei Luftangriffen auf Hamburg und Freiburg wurden Satz und erste Auflage noch vor der Auslieferung vernichtet. Sofort nach Kriegsende betrieb Klostermann die Veröffentlichung neu. In dem dann 1946 erschienenen Werk vertritt Jünger die These, dass der technische Fortschritt mit seinem Raubbau an allen natürlichen Ressourcen eigentlich einen Rückschritt für die Menschheit bedeute. Mit solcher Technikkritik wider den damaligen Zeitgeist erregte das Buch sofort Aufsehen. Es wurde zum Standardwerk für die ökologische Bewegung und, mittlerweile in der 8. Auflage, zum echten Longseller, der an Aktualität nichts eingebüßt hat.
Vor 75 Jahren, am 1. Oktober 1930, gründete Vittorio Klostermann seinen Verlag in Frankfurt am Main. Der 28-jährige Buchhändlersohn aus Jena hatte zuvor den geisteswissenschaftlichen Verlag von Friedrich Cohen in Bonn geleitet, den er aber nicht mehr vor dem wirtschaftlichen Ruin bewahren konnte. Aus Cohens „Konkursmasse“ übernahm Klostermann seine Autoren, mit denen er in regem geistigem Austausch sein eigenes Verlagsprogramm entwickelte: Hanns Wilhelm Eppelsheimer, Hans Lipps, Walter F. Otto, Karl Reinhardt, Kurt Riezler. Vor allem der Philosoph Martin Heidegger beriet und ermutigte den jungen Verleger bei dessen – angesichts der Weltwirtschaftskrise ziemlich riskantem – Unternehmen. Heidegger selbst wurde jedoch erst 1943/44 zum Autor des Verlags. Seit 1975 erscheint die Gesamtausgabe von Heideggers Schriften bei Klostermann, von deren geplanten 102 Bänden soeben der 70. herausgekommen ist. Insgesamt ist der Verlag Vittorio Klostermann heute einer der führenden deutschen Verlage auf dem Gebiet der Philosophie wie der Geisteswissenschaften überhaupt.
Der Gründer Vittorio Klostermann beabsichtigte anfangs ein breit angelegtes Verlagsprogramm in den Geistes-, Gesellschafts- und Wirtschaftswissenschaften. Sein erstes „Produkt“ war ein eher bescheiden anmutendes Heftchen: „Hugo von Hofmannsthal“, die Frankfurter Antrittsvorlesung des Germanisten Max Kommerell, erschienen im Herbst 1930. Derselbe Autor bescherte Klostermann schon im folgenden Jahr einen ersten kleinen Erfolg mit der Schrift „Jugend ohne Goethe“. Dennoch brachte der Verlag finanziell so wenig ein, dass der Chef zumindest bis 1938 nebenbei ein Antiquariat betreiben musste, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Unverdrossen arbeitete Klostermann jedoch am Aufbau des Verlags, gründete bald erste wissenschaftliche Reihen wie die „Philosophischen Abhandlungen“ und gab Eppelsheimers „Handbuch der Weltliteratur“ (1935-37) heraus – heute ein Standardwerk, damals ein verlegerisches Risiko, zumal darin durchaus dem NS-Regime missliebige Autoren wie Heine oder Marx berücksichtigt sind. Mit Anstand führte Klostermann seinen Verlag durch das „Dritte Reich“. Im Jahr 1944 verlor er zunächst seine Zulassung durch die NS-Behörden, dann bei einem Luftangriff auf Freiburg seine dort ausgelagerten Buchbestände.
Wenige Monate nach Kriegsende 1945 begann der Verleger, ausgestattet mit der Lizenz Nr. 14 der amerikanischen Militärregierung, wieder in Frankfurt neu. Neben seiner Verlagstätigkeit machte er sich als Mitbegründer des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, der Frankfurter Buchmesse und der Deutschen Bibliothek um Frankfurts Aufstieg zur bundesdeutschen „Buchstadt“ verdient. Im stetigen Ausbau setzte Klostermann seinen geisteswissenschaftlichen Verlag ureigenster Prägung fort. Nach seinem Tod 1977 wahrten seine Söhne und Nachfolger Michael und Vittorio Eckard Klostermann auf hohem Niveau die Kontinuität in dem „sehr persönlichen Geschäft“: „Der Verlag ist seiner Grundlinie treu geblieben“, sagt Vittorio E. Klostermann, der seit dem Tod des Bruders 1992 das Unternehmen allein leitet.
In seinem Programm konzentriert sich der Verlag allerdings inzwischen stärker auf seine eigentlichen Hauptzweige: Philosophie, Rechtsgeschichte, Buch- und Bibliothekswesen sowie Literaturwissenschaft, insbesondere Germanistik und Romanistik. Die „Nebenäste“ dagegen wurden drastisch beschnitten. In alten Anzeigen tauchen etwa noch Bücher aus den Bereichen Soziologie, Wirtschaftswissenschaften, Archäologie, ja sogar Geologie auf. „Unser Vater hatte vor nichts Angst“, erzählt Vittorio E. Klostermann, „und dabei hat er lauter Standardwerke gebracht.“ Insgesamt hat der Verlag in seiner Geschichte über 2.000 Titel veröffentlicht, von denen etwa 1.400 noch lieferbar sind. Jährlich kommen rund 50 Neuerscheinungen hinzu. Im Netzwerk mit zehn Mitarbeitern sowie zahlreichen externen Beratern und Reihenherausgebern ist der Verleger ständig auf der Suche nach neuen Autoren, meist an Universitäten: Die Habilitationsschrift ist der klassische Einstieg bei Klostermann. Über jede Neuerscheinung wird traditionell allein nach ihrer wissenschaftlichen Qualität entschieden.
Aber auch ein wissenschaftlicher Verleger muss immer wirtschaftlich denken. So hat Klostermann im letzten Jahr mit der Herausgabe einer Taschenbuchreihe („Klostermann Seminar“) begonnen. Als deren 14. Band ist jetzt ein Buch „Die Kanji lernen und behalten“ erschienen, das eine revolutionäre Methode zum Erlernen der fast 2.000 japanischen Schriftzeichen bietet und damit „zum kleinen Bestseller“ zu werden verspricht. Das erfolgreichste Buch des Verlags überhaupt, so berichtet Vittorio E. Klostermann, entsprang auch eher einem „Winkelzug“ im Programm: Es ist ein anthroposophischer Ratgeber für junge Mütter, „Geburt und Kindheit“ von Wilhelm zur Linden, der inzwischen im 139. bis 148. Tausend vorliegt. Auf dem zweiten Platz von Klostermanns Bestsellerliste folgen Heideggers „Holzwege“ (mit 40.000 verkauften Exemplaren) – ein Titel, der in seinem wortwörtlichen Sinne gar nicht zum Resümee der Verlagsgeschichte taugt.
Sabine Hock
Wochendienst, hg. v. Presse- und Informationsamt der Stadt Frankfurt am Main, Nr. 37 vom 20.09.2005