Elias Canettis Initialzündung auf der Zeil
Zum 100. Geburtstag am 25. Juli: Auf den Spuren des Schriftstellers in Frankfurt
Er erhielt den Büchner-Preis, den Franz-Kafka-Preis und 1981 den Nobelpreis für Literatur: Elias Canetti. Drei Jahre lang lebte er in Frankfurt, ging hier zur Schule und erfuhr erstmals die Wirkung von „Masse und Macht“.
Frankfurt am Main (pia) „Die Masse“ erlebte Elias Canetti erstmals bei einer Arbeiterdemonstration anlässlich der Ermordung des deutschen Außenministers Walther Rathenau am 27. Juni 1922, einer der größten Demonstrationen in der Geschichte der Stadt überhaupt. Fasziniert beobachtete der damals knapp 17-jährige Realgymnasiast den schier endlosen Zug der Protestierenden auf der Zeil: „Ich sehe noch die großen, kräftigen Gestalten, die hinter dem Schild ‚Adler-Werke‘ hergingen“, erinnerte er sich. „Sie gingen dicht nebeneinander und warfen herausfordernde Blicke um sich, ihre Zurufe trafen mich, als gälten sie mir persönlich. (...) Ich hätte gern zu ihnen gehört, ich war kein Arbeiter, aber ich bezog ihre Zurufe auf mich, als wäre ich einer.“ Das „Rätsel“ der Masse und ihrer „physischen Anziehungskraft“ ließ Canetti seitdem nicht mehr los: „Ich glaube, der Entschluß, herauszubekommen, was Masse eigentlich ist, war akut auf diese Erlebnisse in Frankfurt zurückzuführen.“ Fast 40 Jahre nach dieser Initialzündung vollendete der Autor sein Hauptwerk „Masse und Macht“ (1960).
Vor 100 Jahren, am 25. Juli 1905, wurde Elias Canetti als ältester Sohn einer wohlhabenden spaniolischen Familie im bulgarischen Rustschuk geboren. Deutsch, die Sprache seiner Literatur, lernte der Achtjährige erst als vierte Sprache in Wien. Seit 1916, als die früh verwitwete Mutter sich einer Kur in Arosa unterzog, lebte der hochbegabte Junge in einem Pensionat in Zürich, wo er sich in einer von Büchern und Bildern bestimmten Geisteswelt abkapselte. Gegen den drohenden Realitätsverlust ihres Ältesten ersann die genesene Mutter dann seine „Vertreibung aus dem Paradies“: Sie verordnete ihm und seinen beiden Brüdern die harte Schule des Lebens im schwer von den Kriegsfolgen gezeichneten Deutschland. Eher zufällig, auf Empfehlung eines Mitpatienten in Arosa, wählte sie Frankfurt als neuen Wohnort der Familie. Nur knapp drei Jahre, vom Sommer 1921 bis Ostern 1924, lebte Elias Canetti in der Mainstadt. Doch die Frankfurter Zeit hat den späteren Literaturnobelpreisträger und sein Schaffen stark geprägt.
Von diesen Jahren erzählt Elias Canetti in seinem 1980 erschienenen Werk „Die Fackel im Ohr“, dem zweiten Band seiner „Lebensgeschichte“. Viele Namen von Schauplätzen und Personen seiner Frankfurter Zeit gibt er dort nur verschlüsselt an. So schreibt er, dass die Familie, „da die Umstände ungewiß waren und wir noch nicht wußten, wie lange wir bleiben würden“, in eine Pension zog, die er „Pension Charlotte“ nennt. Kurz nach Erscheinen des Buchs erkannte ein Journalist darin die „Pension Bettina“ in der Bockenheimer Landstraße 89 im Westend. Unter diesem Namen ging das Haus in die Literaturgeschichte ein. In den stadthistorischen Quellen jedoch ist die Pension belegt als „Haus (oder auch Villa) Brentano“, ein „Fremdenheim für Familien“, das etwa „Woerl’s Reisehandbuch“ von 1919 und 1924 empfiehlt. Heute ist in dem repräsentativen Neurenaissancebau von 1889 das „Hotel Palmenhof“ beheimatet, dessen Besitzer jetzt eine Gedenktafel für den berühmtesten Gast anbringen lassen.
In der Pension wohnte die Witwe Canetti mit ihren drei Söhnen in zwei Zimmern im ersten Stock, „ziemlich gedrängt, viel näher mit anderen Menschen als je zuvor“, wie Canetti rückblickend schreibt: „Wir fühlten uns zwar als Familie, aber wir aßen unten mit anderen zusammen an einem langen Pensionstisch.“ Die illustre Gesellschaft an diesem Tisch schildert er nicht ohne Lust an der Satire. Anhand alter Adressbücher sind heute nur noch die Pensionswirtin „Frau Kupfer“, eine „Kriegswitwe“, die eigentlich Käthe Klesper hieß, und zwei ihrer Dauergäste eindeutig identifizieren, nämlich die beiden Lehrerinnen „Fräulein Kündig“ und „Fräulein Bunzel“, tatsächlich „Kamper“ und „Kauffmann“, die als eifrige Leserinnen der „Frankfurter Zeitung“ die Gesprächsthemen an der Hoteltafel bestimmten.
Von der Bockenheimer Landstraße hatte es der damals 16-jährige Canetti nicht weit zur Wöhlerschule, einem Realgymnasium, das bis 1944 in der Lessingstraße 1 im Westend angesiedelt war. Aus der „Vielfalt“ der Lehrer hebt er seinen Deutschlehrer Dr. Harry Gerber hervor, einen „stillen und feinen Mann“, dem er „etwas danke“ und den er deshalb bei seinem wahren Namen nennt. Gerber, späterer Stadtarchivdirektor, schloss für Canetti die Lehrerbibliothek auf und gab ihm soviel daraus zu lesen, wie er wollte. So „fraß“ sich der Junge durch die gesamte Literatur der Antike. Einmal fragte der Lehrer nach Canettis Berufswunsch und war enttäuscht, als er die Antwort „Arzt“ – und nicht etwa „Schriftsteller“ – hörte. Künftig erwähnte Gerber „unauffällig und in irgendeinem Zusammenhang des öfteren schreibende Ärzte“.
Ohnehin zweifelte Canetti längst an diesem eher von der Mutter vorgegebenen Berufsziel. „Vieles quälte mich zu dieser Zeit“, notiert Canetti, „ich fühlte mich schuldig für die Not, die wir um uns sahen und nicht teilten.“ Die Familie konnte von den Zahlungen eines Bruders der Mutter aus Manchester damals recht gut in Deutschland leben. Doch auf seinen Wegen durch die Stadt wurde der Jugendliche mit dem Elend der Inflationszeit konfrontiert. Einmal musste er mit ansehen, wie eine Frau auf der Straße „vor Hunger und Schwäche“ ohnmächtig zusammenfiel. Tief erschüttert kehrte er in das Hotelzimmer zurück, wo der Anblick des zur Jause bereitstehenden Honigtopfes auf dem Familientisch ihn völlig aus der Fassung brachte. Er stürzte hinaus und raste auf seinem Fahrrad sinnlos durch die Straßen. Die Mutter zog aus dem Vorfall den Schluss, dass der Sohn sich wohl doch nicht für den Arztberuf eigne, wenn ihn schon der Anblick einer Ohnmacht so ergreife.
Aber auch aus seiner regen Teilnahme am kulturellen Leben in Frankfurt empfing Canetti prägende Eindrücke. Häufig ging er ins Theater, wo die Schauspielerin Gerda Müller als Kleistsche Penthesilea seine „Initiation in Liebe“ wurde: „Ich habe es seither nie gewagt, dieses Stück auf der Bühne wiederzusehen, und wenn ich es las, habe ich ihre Stimme gehört, die mir nie schwächer wurde.“ Aus Schwärmerei für den Schauspieler Carl Ebert besuchte Canetti eine Sonntagsmatinee, bei der Ebert das babylonische Epos von Gilgamesch und dessen Aufbegehren gegen den Tod seines Freundes Enkidu las. Ohne eigentlich zu wissen, worauf er sich eingelassen hatte, bekam Canetti eine der wesentlichsten Lehren seines Lebens: „Es geht nicht darum, wie ein Papagei zu wiederholen, daß alle Menschen bis heute gestorben sind, es geht nur darum, zu entscheiden, ob man den Tod willig hinnimmt oder sich gegen ihn empört.“ Die „Empörung gegen den Tod“ wurde Canetti zur wichtigsten Triebfeder seines Schaffens.
Das letzte halbe Jahr bis zum Abitur verbrachte Canetti allein in Frankfurt, als Pensionär bei einer hiesigen Familie, während Mutter und Brüder nach Wien weitergezogen waren. Sofort nach der Prüfung, noch vor der Abschlussfeier, verließ Canetti die Mainstadt, um ebenfalls nach Wien zu gehen und dort ein Chemiestudium zu absolvieren. 1930/31 verfasste er seinen ersten Roman, dem er den Titel „Die Blendung“ gab, in Erinnerung an Rembrandts Gemälde „Simsons Blendung“, dessen furchtbarer Anblick im Frankfurter Städel ihn einst gelehrt hatte, „was Haß ist“. Zu literarischer Anerkennung kam Canetti, der seit seiner Emigration 1939 in London lebte, allerdings erst spät. Einem breiteren Publikum bekannt wurde er durch seine dreibändige Autobiographie („Die gerettete Zunge“, 1977, „Die Fackel im Ohr“, 1980, und „Das Augenspiel“, 1985), in der er auch seine Frankfurter Zeit verarbeitete. Am 14. August 1994 starb Elias Canetti in Zürich.
Sabine Hock
Wochendienst, hg. v. Presse- und Informationsamt der Stadt Frankfurt am Main, Nr. 27 vom 12.07.2005