Zum 60. Geburtstag von Rainer Werner Fassbinder
Am Frankfurter „TAT“ wollte der Regisseur hochfliegende Pläne verwirklichen
Rainer Werner Fassbinder, der produktivste und prominenteste Vertreter des Neuen Deutschen Films, kam im Sommer 1974 nach Frankfurt, um das Theater am Turm (TAT) zu leiten und als Experimentierbühne nach dem Mitbestimmungsmodell zu profilieren. Die hoffnungsvoll begonnene „Ära Fassbinder“ scheiterte jedoch schon nach wenigen Monaten.
Frankfurt am Main (pia) Der Regisseur hatte den Kulturdezernenten ins „Zero“ bestellt. In der rauchverhangenen Berliner Schwulenkneipe erwartete Rainer Werner Fassbinder an einem riesigen runden Tisch mit seinem Team den Gast aus Frankfurt. Er begrüßte Hilmar Hoffmann mit einem saloppen Hallo, ohne sich aus seinem tiefen Sessel zu erheben. Als Hoffmann etwas irritiert fragte, wohin sie sich denn zum Verhandeln zurückziehen sollten, machte Fassbinder eine ausladende Geste zu einem noch freien Platz. In dieser „kollektiven Situation“ wurden sich Hoffmann, Fassbinder und dessen Getreue aber bald einig: Zur kommenden Spielzeit 1974/75 sollte Fassbinder die künstlerische Leitung des Theaters am Turm (TAT) in Frankfurt übernehmen. Seine Schauspieler und anderen Mitarbeiter würde er mitbringen, wobei jeder - ob Charge oder Star, also auch der künftige Intendant selbst - die gleiche Gage in Höhe von dreitausend Mark erhalten sollte. Schließlich wollten sie alle ein Modelltheater nach den Grundsätzen der „Mitbestimmung“ schaffen. „Im nachhinein“, so schreibt Hoffmann in seinen Memoiren, „fand ich diese Art von Vertragsverhandlung jedenfalls im Interesse des Steuerzahlers kostensparend günstig.“
Immerhin war Rainer Werner Fassbinder damals schon ein Star. Vor 60 Jahren, am 31. Mai 1945, wurde er in Bad Wörishofen geboren. Nach Schauspielausbildung und ersten Theatererfahrungen in München gehörte er dort im Mai 1968 zu den Gründern des „antiteaters“, eines Schauspielerkollektivs, das mit unkonventionellen Theater-, Film- und Fernsehproduktionen auf sich aufmerksam machte. Im Frühjahr 1969 drehte Fassbinder seinen ersten Spielfilm „Liebe ist kälter als der Tod“, der noch weitgehend unbeachtet blieb. Doch schon sein zweiter Kinofilm, das Gastarbeiter-Melodram „Katzelmacher“, wurde vielfach ausgezeichnet. Seitdem brachte der Regisseur mit seiner Gruppe zwei bis drei Filme im Jahr heraus. So konnte der 28-Jährige, als er am 26. November 1973 zum künstlerischen Leiter des TAT in Frankfurt berufen wurde, schon ein beachtliches Oeuvre vorweisen. Um jene Zeit, im Frühjahr 1974, sorgte er gerade für Furore mit seinem Spielfilm „Angst essen Seele auf“ über die Liebe zwischen einer alternden deutschen Putzfrau und einem jungen marokkanischen Gastarbeiter.
Derweil setzte man in Frankfurt große Hoffnungen auf den prominenten Regisseur, der das von Krisen gebeutelte TAT wieder zu einer führenden Experimentierbühne machen sollte. Auch der Auserwählte selbst verband mit der neuen Aufgabe hochfliegende Pläne, träumte von einem „Theaterzentrum Frankfurt“, das er in Zusammenarbeit mit den Städtischen Bühnen unter Peter Palitzsch schaffen wollte. In seiner Bewerbung hatte er den Vorstand des Frankfurter Bundes für Volksbildung, den Rechtsträger des TAT, überzeugt mit Sätzen wie: „Wir wissen um die Tradition des gesellschaftlichen und politischen Lebens der Stadt Frankfurt, wir kennen das TAT und die Volksbühnenorganisation. Dieses Wissen sowie unsere Absichten werden wir einbringen, um im TAT Volkstheater im weitesten Sinne zu machen.“ Den Spielplan seiner ersten Saison stellte Fassbinder unter das Thema „Gruppenpsychologie“ - was auch auf sein angestrebtes Ideal der kollektiven Arbeit am Theater bezogen werden konnte.
Am 1. August 1974 trat Fassbinder sein Amt in Frankfurt an. Die Leitung des TAT teilte er sich mit seinem Schauspieler Kurt Raab, der vom Ensemble in die Direktion entsandt worden war, und dem Verwaltungsfachmann Roland Petri, der den Bund für Volksbildung vertrat. Zur ersten Premiere, einer Bühnenfassung von Zolas „Germinal“ am 15. September 1974, erschienen die internationale Kritiker- sowie die städtische und hessische Politikerprominenz in gespannter Erwartung. Doch das Publikum, so erinnerte sich der FAZ-Kritiker Siegfried Diehl, „langweilte sich mit Anstand“. Einen Monat später erzielte auch die Kollektivinszenierung von Strindbergs „Fräulein Julie“ mit Fassbinder in der Rolle des Dieners Jean nur mäßige Wirkung. Damit hatte sich das „Gruppenexperiment TAT“ für Fassbinder schon erledigt. Während der Arbeit an den beiden folgenden Produktionen kam es Ende 1974 bereits zu massiven internen Auseinandersetzungen. Fassbinder hatte offenbar die freien Arbeitsmöglichkeiten an einem subventionierten Theater wie dem TAT über- und den festen Verwaltungsapparat unterschätzt.
Im Januar 1975 brach der Konflikt am TAT offen aus. Nach der Rückkehr von einer USA-Reise drohte Fassbinder ultimativ mit kurzfristiger Kündigung, wobei sein Zorn sich insbesondere an Mitdirektor und Verwaltungsleiter Petri entzündete. Kulturdezernent Hoffmann konnte noch einmal einrenken. Frohgemut stellte Fassbinder das Konzept seiner zweiten Spielzeit vor, die „vom deutschen Wesen“ handeln sollte. Doch im TAT wollte sich der Erfolg nicht einstellen: glücklose Projekte, gescheiterte Produktionen, schließlich die Ablehnung des neuen Mitbestimmungsmodells durch den Rechtsträger. Fassbinder, ohnehin längst im unbezahlten Urlaub, kündigte am 4. Juni 1975 fristlos.
Nur drei Tage zuvor hatte der Regisseur noch mit den Proben zu einem „Frankfurt-Stück“ begonnen, das er auf einem seiner Atlantikflüge geschrieben hatte. Sofort nach Fassbinders Ausstieg brach der Rechtsträger die Arbeiten an der Inszenierung ab. „Das Stück“, so meinte Fassbinder damals in einem Interview, „war denen wohl... ich weiß nicht was, vielleicht zu obszön oder brisant oder was auch immer...“ Das Stück hieß „Der Müll, die Stadt und der Tod“. Bereits nach der Erstveröffentlichung 1976 wurden ihm antisemitische Tendenzen vorgeworfen, und 1985 kam es bei der geplanten Uraufführung an den Städtischen Bühnen deswegen zum Theaterskandal.
Am 10. Juni 1982 starb Rainer Werner Fassbinder im Alter von 37 Jahren in München, plötzlich herausgerissen aus seiner rastlosen Produktionswut, mit der er in 13 Jahren allein über 40 Filme gedreht hatte. „Ich“, so hatte er einmal bekannt, „möchte für das Kino sein, was Shakespeare fürs Theater, Marx für die Politik und Freud für die Psychologie war: jemand, nach dem nichts mehr ist wie zuvor.“
Sabine Hock
Wochendienst, hg. v. Presse- und Informationsamt der Stadt Frankfurt am Main, Nr. 19 vom 17.05.2005
Eine englische Fassung erschien im Internationalen Wochendienst, hg. v. Presse- und Informationsamt der Stadt Frankfurt am Main, ebenfalls am 17.05.2005.