Ein Hirnforscher der ersten Stunde
Zum 150. Geburtstag des Frankfurter Neurologen Ludwig Edinger
Auf ihn geht die Tradition der Hirnforschung in Frankfurt zurück: Der Neurologe Ludwig Edinger gründete 1885 das Neurologische Institut in der Mainstadt, das älteste Hirnforschungsinstitut in Deutschland. Edinger erarbeitete die Grundlagen der Neuroanatomie und wies Wege für die moderne Neurowissenschaft.
Frankfurt am Main (pia) In seiner frühen Frankfurter Zeit war Ludwig Edinger rund um die Uhr tätig. Tagsüber besorgte er seine gesuchte Arztpraxis, und in der Nacht erforschte er die Anatomie des menschlichen Gehirns. Zu diesem Zweck hatte er sich in seinem Schlafzimmer ein provisorisches Laboratorium eingerichtet, an einem alten Küchentisch mit einem kleinen Mikroskop sowie ausrangierten Vasen und Konservengläsern als Laborgefäßen. Der Mediziner musste seine neuroanatomischen Forschungen auch deshalb in sein Schlafzimmer verlegen, weil ihm als Juden bisher die wissenschaftliche Laufbahn an einer deutschen Universität versagt geblieben war. So begann er im Verborgenen mit seiner anatomischen Grundlagenforschung, die bahnbrechend in der Neurologie werden sollte.
Vor 150 Jahren, am 13. April 1855, wurde Ludwig Edinger als Sohn eines erfolgreichen Textilfabrikanten in Worms geboren. Er studierte Medizin in Heidelberg und Straßburg, wandte sich aber erst in seiner Assistentenzeit in Gießen der Neurologie zu, die er auch zum Gegenstand seiner Habilitation machte. Im Jahr 1883 ließ sich Ludwig Edinger als „Practischer Arzt und Spezialist für Nervenheilkunde“ in Frankfurt nieder. „Ich war fast der erste in Deutschland, der diese Spezialbezeichnung wagte“, erinnerte er sich. Noch in seinem ersten Winter in der Mainstadt nahm er die erwähnten neuroanatomischen Studien auf. Erste Ergebnisse stellte Edinger 1884 dem Ärztlichen Verein vor, in zehn Vorlesungen über den Bau des menschlichen Gehirns, die er kurz darauf in Buchform publizierte. Durch dieses Werk wurde er schlagartig in internationalen Fachkreisen bekannt.
Auf Edingers Initiative wurde 1885 der Pathologe Carl Weigert zum Direktor der Dr. Senckenbergischen Anatomie berufen. Weigert räumte seinem Freund Edinger umgehend einen Arbeitsplatz in diesem Institut ein. Weigerts und Edingers künftig enge Zusammenarbeit wurde durch die räumliche Situation in der alten Anatomie auf dem Gelände am Eschenheimer Tor noch gefördert: Dort war so wenig Platz, dass alle aufstehen mussten, wenn einer hinausgehen wollte. Erst 1902 erhielt Edinger in dem Gebäude einen eigenen Raum für seine neurologische Abteilung, die dadurch zum „Dr. Senckenbergischen Neurologischen Institut“ avancierte. Im folgenden Jahr wurde er auch offiziell zum Direktor des von ihm begründeten Instituts ernannt, das er stetig weiter ausbaute.
Im Mittelpunkt der Arbeit stand die vergleichende Neuroanatomie. Edingers Idee war es, durch den detaillierten Vergleich des Gehirns in der evolutionär aufsteigenden Tierreihe einzelnen Hirnteilen definierte Leistungen zuzuordnen. „Ausgehend von Fischen, über Amphibien und Reptilien zu Vögeln und Säugetieren fortschreitend, entdeckte Edinger eine Grundstruktur des Wirbeltiergehirns: das Ur- oder Althirn und das sich in der Evolution überproportional ausbildende Neuhirn, auf dem die höheren kognitiven Leistungen des Menschen beruhen“, erläutert der Medizinhistoriker und Edingerforscher Dr. Gerald Kreft.
Am 10. Dezember 1907 bezog Edinger mit seinem Institut den zweiten Stock der neu erbauten Dr. Senckenbergischen Pathologie auf dem Gelände des Städtischen Krankenhauses (des späteren Universitätsklinikums) in Sachsenhausen. Aber obwohl der Hirnforscher das Institut privat finanzierte, fürchtete die Senckenbergische Stiftung zusätzliche materielle Belastungen. Sie löste daher nach langen Querelen 1908/09 die Bindung. Aber schon bald darauf konnte Edinger das Neurologische Institut an die neu gegründete Frankfurter Universität anschließen. Im Eröffnungsjahr 1914 wurde er zum ordentlichen Professor für Neurologie ernannt: Edinger war damit der erste Ordinarius dieser Fachrichtung in Deutschland. In der Ernennungsurkunde war allerdings ausdrücklich vermerkt, dass er sein Institut weiterhin aus eigener Tasche zu unterhalten habe.
Derweil schmiedete Edinger weitreichende Pläne: Er wollte sein Institut großzügig ausbauen zu einer interdisziplinären Arbeitsstätte, um etwa eine Brücke zwischen Hirnforschung und Psychologie zu schlagen, womit er die Idee von einer umfassenden Neurowissenschaft (Neuroscience) vorwegnahm. Alle „interakademischen Hirnforschungsstätten“ sollten zudem in einer in Paris gegründeten „Brain Commission“ auf internationaler Ebene kooperieren. Durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs konnte Edinger diese Vorhaben nicht realisieren. Statt dessen widmete sich der Hirnforscher ganz pragmatisch den bei verwundeten Soldaten auftretenden Nervenverletzungen. Am 26. Januar 1918 starb Ludwig Edinger unerwartet. Noch nach seinem Tod zeigte er sich als Hirnforscher bis zur letzten Konsequenz: Er hatte verfügt, dass sein Gehirn in seinem Institut seziert werden sollte.
Den Fortbestand des Neurologischen Instituts hatte Edinger 1917 durch die Einrichtung einer Stiftung gesichert. Der „Ludwig Edinger-Stiftung“ gehört das - mittlerweile ebenfalls den Namen seines Gründers tragende - Institut bis heute. Derzeit ist geplant, dass das Edinger-Institut zusammen mit dem Forschungslabor der Neurologischen Klinik und anderen Neurofächern ein „Neurowissenschaftliches Zentrum“ am Universitätsklinikum bilden soll. Damit wäre endlich die „interakademische Hirnforschungsstätte“ in Frankfurt geschaffen, von der Edinger einst geträumt hat.
Sabine Hock
Wochendienst, hg. v. Presse und Informationsamt der Stadt Frankfurt am Main, Nr. 14 vom 12.04.2005