Der Grandseigneur der Bonner Republik

Zum 25. Todestag von Carlo Schmid

Als Carlo Schmid am 11. Dezember 1979 in Bad Honnef starb, verlor die Bundesrepublik eine herausragende Politikerpersönlichkeit, die wesentlich an der Gestaltung des Grundgesetzes mitgewirkt hatte. Der Goethepreisträger lehrte von 1953 bis 1969 als ordentlicher Professor für politische Wissenschaften an der Frankfurter Universität.

Frankfurt am Main (pia) „Das Silberbesteck im Proletarierhaushalt“ hat Bundespräsident Theodor Heuss ihn einst genannt. Nicht nur im Bundestag trat Carlo Schmid auf wie ein Geistesfürst. Der stattliche Professor mit der wallenden Löwenmähne war universal gebildet, dabei dem Lebensgenuss durchaus zuneigt, begriff „Politik als eine geistige Aufgabe“ und verstand ebenso charmant zu plaudern wie brillant zu reden. Im Parlament glänzte er mit rhetorischen Darbietungen, die effektvoll gespickt waren mit Bonmots seiner Geistesfreunde Platon, Dante und Goethe. Statt auf Marx und Engels baute der Sozialdemokrat auf Stefan George und Nietzsche, er liebte Hölderlin und bewunderte Heidegger. Wenn ihm eine Bundestagssitzung zu langweilig wurde, übersetzte er nebenher Baudelaire, Malraux und Julian Green.

Als Carlo Schmid vor 25 Jahren starb, verlor die Bundesrepublik eine herausragende und zugleich die farbigste Politikerpersönlichkeit der Nachkriegszeit. Über die Parteigrenzen hinweg wurde der politische Grandseigneur der Bonner Republik bewundert, obwohl oder gerade weil er niemals ein bedeutendes Amt bekleidet hatte. Geboren wurde Charles Jean Martin Henri gen. Carlo Schmid am 3. Dezember 1896 in Perpignan in Südfrankreich als Sohn eines württembergischen Lehrers und einer „stolzen Französin“. Aufgewachsen in der schwäbischen Heimat des Vaters, arbeitete er nach Kriegsdienst und Jurastudium zunächst als Rechtsanwalt in Tübingen und als Amtsrichter in Tettnang am Bodensee. Nach seiner Habilitation im Völkerrecht (1929) wurde er Dozent in Tübingen und Berlin. Eine Professur verweigerte man ihm in der NS-Zeit, weil er sich kritisch über Hitlers Rassenideologie geäußert hatte. Bei Kriegsende nach Tübingen zurückgekehrt, holte ihn die französische Militärverwaltung in die Regierung des neu gebildeten Landes Südwürttemberg-Hohenzollern.

Von September 1948 an war Carlo Schmid Mitglied im Hauptausschuss des Parlamentarischen Rats in Bonn. Als Vorsitzender dieser wichtigsten Instanz des Verfassungsparlaments prägte er das Grundgesetz entscheidend mit. Indem er den nur „provisorischen“ Charakter der Verfassung der Bundesrepublik im geteilten Deutschland betonte, setzte er einen Maßstab für die deutsche Politik bis ins Jahr der Wiedervereinigung 1990. Auch ist es insbesondere Schmid zu verdanken, dass die Todesstrafe durch Verfassungsbestimmung abgeschafft wurde.

Nach der Vollendung des Grundgesetzes galt Carlo Schmid als der nahezu ideale Bewerber für das Amt des Bundeskanzlers. Mit dem Sieg der CDU bei den ersten bundesdeutschen Wahlen im August 1949 begann statt dessen seine lange Karriere als Kandidat für hohe Ämter. Einmal, als Nachfolger von Heuss 1959, hätte er sogar Bundespräsident werden können. Doch Schmid blieb einfach Mitglied des Bundestags, von 1949 bis 1972, zumeist immerhin als Vizepräsident. Lediglich während der Großen Koalition bekleidete er einmal kurz ein Ministeramt, weil Brandt und Wehner ihn unbedingt im Kabinett haben wollten, als „eine Art intellektuellen Kronleuchter“. So fungierte er von 1966 bis 1969 als Bundesratsminister, in einem relativ unbedeutenden Ressort, das er selbst schon früher hatte abschaffen wollen und das dann auch prompt abgeschafft wurde. Dabei hatte Schmid immer davon geträumt, mehr als nur Vordenker und Planer in der bundesdeutschen Politik sein zu dürfen. Das Amt des Außenministers hätte ihn gereizt.

Von 1953 bis 1969 lehrte Carlo Schmid außerdem als ordentlicher Professor für politische Wissenschaften an der Frankfurter Universität. Mit seinen Samstagsvorlesungen zur Tagespolitik zog er Hörer aller Fachbereiche an. Als ihm 1967 der Goethepreis der Stadt Frankfurt verliehen wurde, sprach er in seiner Festrede „Goethe, der Staat und wir“ über die Verantwortung jedes Einzelnen, insbesondere aber der Gebildeten, für und im demokratischen Staat. Nach der Preisverleihung empfingen ihn vor der Paulskirche „Provos“, die ihn als „Preisochsen“ ausbuhten und aufforderten, das Preisgeld für den Vietcong zu stiften. Wenige Monate später, am 20. November 1967, veranstaltete der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) in Schmids Vorlesung das erste Go-in der Frankfurter Universitätsgeschichte, wobei der Professor zur Unterschrift unter ein Manifest gegen die Notstandsgesetzgebung gebracht werden sollte. Unterstützt von seinen Stammhörern, wehrte er die Aktionen schlagfertig und souverän ab. In seiner humanistischen Überzeugung von der Bedeutung einer geistigen Elite im Staat musste ihn die Studentenbewegung mit ihren Methoden eher befremden.

Im Alter umwehte Schmid ein Hauch von Resignation: Er hatte wohl gemerkt, dass er auf der politischen Bühne zwar bewundert, aber nicht wirklich gebraucht wurde. Doch er wollte sich von „den schwarzen Sonnen der Melancholie“, wie er in einer seiner Lieblingsmetaphern zu sagen pflegte, nicht „versengen“ lassen. Auch nach seinem Mandatsverzicht für den Bundestag 1972 blieb er daher politisch und literarisch tätig, u. a. als Koordinator für die deutsch-französische Zusammenarbeit. Kurz nach der Vollendung seiner Memoiren starb Carlo Schmid am 11. Dezember 1979 in Bad Honnef bei Bonn.

Sabine Hock

Wochendienst, hg. v. Presse- und Informationsamt der Stadt Frankfurt am Main, Nr.47 vom 30.11.2004

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