Amerika vor den Toren

Vor 75 Jahren zogen die ersten Mieter in die Siedlung Römerstadt

Unter der Federführung von Stadtbaurat Ernst May entstand in Frankfurt von 1927 bis 1929 die Siedlung Römerstadt, die architektonische Maßstäbe setzte. Zur Innenausstattung der Häuser gehörte die „Frankfurter Küche“, eine der ersten Einbauküchen der Welt. Heute ist die Römerstadt als bedeutendes Baudenkmal der frühen Moderne international bekannt.

Frankfurt am Main (pia) „Bauen für ein neues Leben“ wollten Ernst May und seine Architekten des „Neuen Frankfurt“ in den 1920-er Jahren. So waren die Kleinwohnungen in den damals entstandenen Siedlungen mit modernstem Komfort ausgestattet. In der Römerstadt etwa konnte jede der insgesamt 1.182 Wohneinheiten über Zentralheizung, Einbauküche, Rundfunkanschluss und einen eigenen Nutzgarten verfügen. Vor allem aber war diese Siedlung die erste, in der alle Haushalte voll elektrifiziert waren. Der heute selbstverständliche Elektroherd verblüffte einst nicht nur den Lokalreporter des „Frankfurter General-Anzeigers“: „Der [Strom] ist im neuen Heim das ‚Mädchen für alles‘: kocht die Suppe, brät das Fleisch, backt den Kuchen, heizt das Bad und das Spülwasser – und leuchtet natürlich auch.“ Angesichts von solch „elektrischer Herrlichkeit“ schwärmte der Journalist: „Wir haben Amerika direkt vor den Toren. Wer Verwandte oder Bekannte hat, die im Laufe des kommenden Halbjahres hinaussiedeln, dem eröffnet sich ein Wallfahrtsziel, das er seufzend bestaunen kann.“

Vor 75 Jahren, am 1. August 1928, zogen die ersten Mieter in die Siedlung Römerstadt. Im Sommer darauf war mit Eröffnung der neuen „Schule in der Römerstadt“ (der heutigen Geschwister-Scholl-Schule) die Großsiedlung im Frankfurter Stadtteil Heddernheim nach nur zweijähriger Bauzeit vollendet. Sie gehörte zum umfassenden Wohnungsbauprogramm des damaligen Stadtbaurats Ernst May (1886-1970), der während seiner nur fünfjährigen Amtszeit mehr als 20 Siedlungen mit insgesamt ca. 15.000 Wohnungen schuf. Heute zählt vor allem die Römerstadt zu den bedeutendsten Baudenkmälern der frühen Moderne in Deutschland. Anders als ähnlich herausragende Wohnbauprojekte der Zeit, etwa die Weißenhofsiedlung in Stuttgart, mussten die Frankfurter May-Siedlungen als real funktionierendes Massenexperiment konzipiert werden: Es galt, die drängende Wohnungsnot in der aufstrebenden Mainstadt zu bekämpfen.

Den Raum für die Großsiedlungen fand May am Stadtrand, in den noch nicht allzu lange eingemeindeten dörflichen Ortsteilen mitten im Grünen. Die Römerstadt erstreckt sich auf ca. 1,5 Kilometern entlang der Talhänge der Nidda von Praunheim nach Heddernheim. Die Auflösung der traditionellen Block- zur modernen Zeilenbauweise hat May in seinem Entwurf unter Mitarbeit der Architekten Herbert Boehm und Wolfgang Bangert genial umgesetzt: In west-östlicher Richtung angeordnete Hauszeilen staffeln sich in sanft abfallenden Terrassen vom Siedlungszentrum aus zur Flussniederung, wo die Römerstadt an ihrer Südseite von einer umlaufenden Stützmauer mit bastionsartigen Vorsprüngen begrenzt wird. „Alles an dieser Planung ist Rhythmik und Schwung“, lobte die zeitgenössische Fachpresse. Charakteristisch war auch die gärtnerische Gestaltung, für die der Landschaftsarchitekt Leberecht Migge verantwortlich zeichnete.

Die Bauten an sich, meist zweigeschossige Einfamilienhäuser sowie an den breiteren Straßen drei- und viergeschossige Mehrfamilienhäuser in Ziegelbauweise mit Flachdächern in Holzkonstruktion, zeigen schlichte Grundformen und klare Linien. Sie konnten nur wenig variiert werden, vor allem wegen der Typisierung der Grundrisse und der Verwendung normierter Bauteile, wie sie May im Interesse einer rationelleren Bauweise vorschrieb. Gelegentlich trieb das Streben nach Rationalisierung allerdings seltsame Blüten, etwa bei der Benennung der „Frankfurter Typengrundrisse“, die beispielsweise „Efa-Elite“, „Zwofa“ oder „Mefanoki“ hießen (was „Einfamilienhaus mit Einliegerwohnung und Dachterrasse“, „Zweifamilienhaus“ und „Mehrfamilienhaus, Nordlagentyp für Kinderreiche“ bedeutete).

Sogar eine unter modernen Gesichtspunkten standardisierte Inneneinrichtung wurde den Mietern der May-Siedlungen angeboten. Die althergebrachten Stilmöbel galten als nicht mehr zeitgemäß: „In ihrem Schnitzwerk sitzt der Staub überwundener Jahrhunderte!“ hieß es in einer Anzeige, die dagegen für schlichte, typisierte Möbel werben sollte, wie sie etwa Ferdinand Kramer entwarf. Für besonderes Aufsehen sorgte aber die „Frankfurter Küche“, eine Einbauküche, die die Wiener Architektin Grete Schütte-Lihotzky nach dem Vorbild der Küchen in Spei-sewagen eigens für die Siedlungshäuser funktional konzipiert hatte. Doch gerade diese neue Küchenform wollten viele Bewohner nicht akzeptieren: Einige ließen sogar die kleine Küche im Erdgeschoss leerstehen und modelten dafür lieber das Schlafzimmer im ersten Stock zur altgewohnten Wohnküche um.

Überhaupt wurden die Römerstadt und alle anderen May-Siedlungen lange und heftig kritisiert: Sie waren Bewohnern, Architekten und Politikern einfach zu „modern“. Seit 1972 steht die Römerstadt unter Denkmalschutz. Jetzt wurde auf Initiative der Architekten Dietrich Pressel und Christian Schweitzer in Frankfurt eine „Ernst-May-Gesellschaft“ gegründet, die ein Einfamilienhaus in der Römerstadt originalgetreu wiederherstellen und einrichten will. Es soll als „Ernst-May-Museum“ zum 75-jährigen Jubiläum der Siedlung im Sommer 2004 eröffnet werden.

Sabine Hock

Wochendienst, hg. v. Presse- und Informationsamt der Stadt Frankfurt am Main, Nr. 27 vom 15.07.2003

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