Ein Geschichtsbuch der Stadt

Vor 175 Jahren wurde der Frankfurter Hauptfriedhof eingeweiht

Die hygienischen Zustände auf dem alten, restlos überbelegten Gottesacker waren unhaltbar geworden. So wurde am 1. Juli 1828 der Neue Friedhof, der jetzige Frankfurter Hauptfriedhof, eingeweiht. Mit rund 80 Hektar ist er heute einer der größten innerstädtischen Parks. Die Inschriften auf seinen rund 68.000 Gräbern lesen sich wie ein Geschichtsbuch der Stadt.

Frankfurt am Main (pia) „Pauline Schmidt“ steht auf dem schlichten Kreuz aus weißem Marmor. Die letzte Ruhestätte des Mädchens ist eines der meistbesuchten Gräber auf dem Frankfurter Hauptfriedhof. Ganze Touristengruppen und vor allem auch Schulklassen kommen zu „Paulinchen“: Denn die Arzttochter war das Vorbild für jene Figur in der „gar traurigen Geschichte mit dem Feuerzeug“ aus dem weltberühmten Bilderbuch „Der Struwwelpeter“ von Dr. Heinrich Hoffmann. Tatsächlich soll die vierjährige Pauline, Tochter eines Kollegen und Freundin der Kinder von Hoffmann, einmal mit Zündhölzern gespielt und dabei einen Zimmerbrand verursacht haben, den sie aber – anders als in der Bilderbuchgeschichte – unbeschadet überstand. Im Alter von 15 Jahren starb Pauline nach schwerer Krankheit am 18. Juni 1856 und wurde im alten Teil des Hauptfriedhofs beerdigt. Gar nicht so weit entfernt davon ruht seit 1894 der Mann, der das Mädchen unsterblich machte: In der Familiengrabstätte Hoffmann-Donner an der alten Friedhofsmauer ist der Geheime Sanitätsrat Dr. Heinrich Hoffmann beigesetzt.

Vor 175 Jahren, am 1. Juli 1828, wurde der Neue Friedhof, der heutige Hauptfriedhof, mit dem Begräbnis von Maria Catharina Allewyn aus Amsterdam eingeweiht. Am Tag zuvor war der seit 1452 bestehende Peterskirchhof in der Innenstadt endlich geschlossen worden. Die hygienischen Zustände auf dem alten, restlos überbelegten Gottesacker waren inzwischen unhaltbar geworden. Der Gestank von Fäulnis und Verwesung lag über dessen gesamtem Umfeld.

Der durch Stadtgärtner Sebastian Rinz 1826/27 angelegte Neue Friedhof, damals 20 Wegminuten nordöstlich vor der Stadt im Grünen gelegen, sollte dagegen kein düsterer Totenacker sein. Das von dem Architekten Friedrich Rumpf errichtete klassizistische Portal führte vielmehr in einen melancholischen Garten des Gedenkens. Das 5,5 Hektar große Grüngelände mit vier Gewannen wurde an seinem östlichen Ende von einer Gruftenhalle begrenzt. Die 57 Gruften sollten führenden Frankfurter Familien als repräsentative Grablege dienen. Noch vor Vollendung des Friedhofs bemühten sich einige um ein Erbbegräbnis in der Gruftenhalle, darunter die Familie von Bethmann, die ihre Gruft mit marmornen Reliefs von Bertel Thorvaldsen ausschmücken ließ. Die mittlere Gruft in der Halle jedoch blieb bis heute leer: Dort sollte eigentlich ein Durchgang zum anschließenden, gleichzeitig angelegten Jüdischen Friedhof in der Rat-Beil-Straße geschaffen werden, sobald eine tolerantere Zeit dies erlauben würde.

Nicht nur die Friedhofsanlage, auch das im linken Flügelbau des Portals untergebrachte Leichenhaus genügte damals, zumal unter hygienischen Gesichtspunkten, den fortschrittlichsten Anforderungen. Vor allem waren dort vielerlei Vorkehrungen getroffen, um die mögliche Bestattung eines Scheintoten zu verhindern. So war eine aufwendige Alarmanlage besonderer Art installiert: Von ihrem Dienstzimmer aus konnten die Totenwärter Tag und Nacht die „Wecker“ in den zehn Leichenzellen beobachten, die jeweils durch eine Schnur mit auf die Finger der Leiche gesteckten Hütchen verbunden waren und so die leiseste Bewegung hätten melden können. In den über acht Jahrzehnten, in denen das Leichenhaus benutzt wurde, hat die Anlage jedoch nur ein einziges Mal geklingelt: Es war aber kein Scheintoter zum Leben erwacht, sondern Verwesungsgase hatten den Bauch einer Leiche aufgetrieben und dadurch die Glocken in Bewegung gesetzt.

Der Hauptfriedhof, der bei seiner Eröffnung eher überdimensioniert erschienen war, musste schon bald und mehrfach nach Norden erweitert werden. Mittlerweile kann das einst auf freiem Feld liegende Gelände nicht mehr maßgeblich vergrößert werden, da es längst völlig von der Bebauung der gewachsenen Großstadt umschlossen ist.

Am 4. Juli 1912 wurde nördlich vom Alten Portal an der Eckenheimer Landstraße der neue Portalbau mit der Trauerhalle und dem Krematorium eröffnet, ein monumentaler Gebäudekomplex in neoklassizistischen Formen mit einer (weitgehend erhaltenen) Innendekoration im Jugendstil. Von dort aus lässt sich heute ein Rundgang über den rund 80 Hektar großen Friedhof, einen der größten innerstädtischen Parks, unternehmen. Die Inschriften auf seinen rund 68.000 Gräbern lesen sich wie ein Geschichtsbuch der Stadt. Direkt gegenüber dem Neuen Portal etwa ist das „Feld der Oberbürgermeister“ angelegt, wo sich die Ehrengräber von Franz von Miquel, Franz Adickes, Ludwig Landmann und Walter Kolb befinden. Vor allem in den älteren Teilen des Friedhofs ist so mancher berühmte Name zu entdecken: Hier ruhen u. a. der Lokalpoet Friedrich Stoltze und die Volksschauspielerin Liesel Christ, die Schriftstellerinnen Dorothea Schlegel und Ricarda Huch, Goethes „Suleika“ Marianne von Willemer, sowie die Philosophen Arthur Schopenhauer und Theodor W. Adorno, dessen 100. Geburtstag in diesem Jahr gedacht wird.

Sabine Hock

Wochendienst, hg. v. Presse- und Informationsamt der Stadt Frankfurt am Main, Nr. 21 vom 03.06.2003

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