„Voltaire verhaftet man nicht“

Vor 250 Jahren wurde der französische Denker in Frankfurt unter Arrest gestellt

Es war ein europäischer Skandal: Im Frühsommer 1753 wurde der damals 58 Jahre alte Schriftsteller und Philosoph über fünf Wochen als Geisel der fernen Großmacht Preußen in Frankfurt am Main festgehalten. Nachdem Voltaire sich mit Friedrich dem Großen überworfen hatte, folgte ihm der Bannstrahl des Preußenkönigs bis in die freiheitlich gesonnene Reichsstadt.

Frankfurt am Main (pia) So etwas hatte Voltaire (1694-1778) noch nicht erlebt. Dabei hatte der französische Schriftsteller und Philosoph wegen seiner scharfen Kritik an den Zuständen in seinem Heimatland sogar schon zweimal im Kerker der Bastille gesessen. Über fünf Wochen im Frühsommer 1753 wurde der damals 58 Jahre alte Voltaire als Geisel der fernen Großmacht Preußen in der eigentlich souveränen Reichsstadt Frankfurt festgehalten. Eine „Ostgoten- und Vandalengeschichte“, sagte er selbst, habe er hier durchmachen müssen. Dieser europaweit Aufsehen erregende Skandal war - so Voltaires Biograph Desnoiresterres - „das große Drama seines Lebens“, das der Philosoph nie vergessen konnte.

Vor 250 Jahren, am 31. Mai 1753, kam Voltaire in Frankfurt an, auf der Durchreise von Potsdam, das er nach dem Bruch mit dem preußischen König Friedrich II. dem Großen verlassen hatte, nach Lothringen, wo er sich einer Badekur unterziehen wollte. Er nahm Logis im Gasthaus „Zum goldenen Löwen“ in der Fahrgasse, einem der ersten Hotels der Stadt, dessen barockes sandsteinernes Wirtshausschild am früheren Löwenplätzchen in der Nähe der Braubachstraße bis heute erhalten ist. Am nächsten Morgen, dem 1. Juni 1753, wollte Voltaire gerade seinen Wagen besteigen, als ihn sein „höchst wunderliches Geschick“ ereilte: Es erschien der preußische Resident in Frankfurt, der Kriegs- und Domänenrat Franz von Freytag, um ihm eine königliche Ordre zu eröffnen.

Im allerhöchsten Auftrag sollte der Gesandte dem Philosophen, dem Kammerherrn und ehemaligen Vertrauten des Preußenkönigs, seine Insignien sowie sämtliche Briefe und Schriftstücke abnehmen, die er von der Hand des Königs erhalten hatte. Vor allem forderte Friedrich der Große seinen Gedichtband „L’Œuvre de Poésie“ zurück, eines von zwölf Exemplaren eines Privatdrucks, das er einst Voltaire als besonderen Vertrauensbeweis geschenkt hatte. Der König fürchtete nun doch, dass der Schriftsteller brisante Details aus dem Buch, das allerhand satirische Spitzen gegen europäische Herrscherhäuser enthielt, ausplaudern könnte. Aber obwohl Freytag stundenlang Voltaires Sachen durchwühlen ließ, war das Buch nicht zu finden. Voltaire erklärte, es sei mit seinem großem Gepäck noch mit der Post von Leipzig unterwegs. Bis zur Ankunft der Fracht in Frankfurt wurde er daher unter Hausarrest gestellt. Am 17. Juni 1753 endlich traf die Kiste aus Leipzig ein. Doch Resident von Freytag wollte erst den nächsten Berliner Posttag und damit die neuesten königlichen Instruktionen abwarten, bevor er auch nur die Kiste öffnen oder gar den Philosophen weiterreisen lassen wollte.

Daraufhin entschloss sich Voltaire am 20. Juni 1753 zur Flucht. Mit seinem Sekretär Collini entkam er über die Gartenmauer und bestieg unerkannt eine Mietkutsche gen Mainz. Doch am Bockenheimer Tor wurde er in letzter Sekunde aufgehalten. Der herbeigerufene Resident von Freytag drohte, den Philosophen zu erschießen, falls er noch einen Schritt weiter ginge. Eskortiert von sechs Soldaten wurden Voltaire und Collini abgeführt, zunächst in das Haus des preußischen Hofrats Johann Friedrich Schmidt, wo ihnen sämtliche Wertsachen abgenommen wurden. Schließlich wurden die beiden in das Gasthaus „Zum Bockshorn“ in der Fahrgasse gebracht. In diesem Lokal zweifelhaften Rufs, der „übelsten Spelunke Europas“ (so Voltaire), wurden sie unter scharfer Bewachung von zwölf Stadtsoldaten gefangen gesetzt.

Mittlerweile war auch der Frankfurter Rat, der bislang aus diplomatischen Gründen offiziell keine Notiz von dieser - eigentlich die Souveränität der Reichsstadt verletzenden - Angelegenheit genommen hatte, eingeschaltet worden: Der Ältere Bürgermeister Johann Carl von Fichard hatte, zwar widerstrebend, Voltaires Verhaftung formell genehmigen müssen. Nun versuchten Vertreter der Stadt, vermittelnd auf die preußische Residentur einzuwirken. Längst hatte Hofrat Schmidt eigenmächtig die Kiste aus Leipzig aufgebrochen und das fragliche Buch entnommen. Aber erst als die eindeutige Weisung aus Berlin eintraf, dem Philosophen die Weiterreise zu gestatten, sobald er den Band zurückgegeben habe, zogen die Residenten am 6. Juli 1753 die Wachmannschaft aus dem „Bockshorn“ ab.

Voltaire konnte wieder in das Gasthaus „Zum goldenen Löwen“ ziehen und sprach gleich beim Älteren Bürgermeister vor, dem er für dessen Vermittlungsversuche dankte, aber auch einen Prozess beim Reichskammergericht in Aussicht stellte. Kurz darauf verlor der völlig überreizte Philosoph beim Anblick des preußischen Gesandtschaftssekretärs Dorn die Nerven: Er zog die Pistole gegen den Beamten, der ihm eigentlich nur das einbehaltene Reisegeld, abzüglich der Haftkosten, zurückerstatten wollte. Wegen dieses „Pistolenattentats“ erneut verhaftet und im Schnellverfahren zu einer Geldstrafe verurteilt, zog es Voltaire vor, am nächsten Tag, dem 7. Juli 1753, eilends die Stadt Frankfurt zu verlassen. Doch bemühte er sich in den folgenden Jahren unermüdlich um Genugtuung für die erlittene Unbill. Tatsächlich dürfte der Philosoph der Aufklärung nicht ganz unschuldig daran sein, dass zwei seiner Peiniger, der Kriegsrat von Freytag und dessen Sekretär Dorn, unter der französischen Besatzung Frankfurts während des Siebenjährigen Krieges 1759 in Festungshaft gesetzt wurden. Mittlerweile galt in Frankreich ein Grundsatz, den erst über zwei Jahrhunderte später Charles de Gaulle in Hinblick auf Jean Paul Sartre formulieren sollte: „Voltaire verhaftet man nicht.“

Sabine Hock

Wochendienst, hg. v. Presse- und Informationsamt der Stadt Frankfurt am Main, Nr. 19 vom 20.05.2003.

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