Zum 100. Geburtstag von Marie Luise Kaschnitz

Ein Veranstaltungsprogramm ehrt die Dichterin in ihrer Wahlheimat Frankfurt

Eine ihrer berühmtesten Erzählungen ist „Das dicke Kind“. Marie Luise Kaschnitz, die heute etwas in Vergessenheit geratene Dichterin, wäre am 31. Januar 100 Jahre alt geworden. Aus diesem Anlass gibt es in Frankfurt vielfältige Veranstaltungen. Zu der Stadt am Main hatte Marie Luise Kaschnitz eine innige Beziehung, die auch in ihrem Werk zum Ausdruck kommt.

Frankfurt am Main (pia) „Ich (...) liebe die Stadt Frankfurt“, sagte Marie Luise Kaschnitz in einem Werkstattgespräch 1961, „ich liebe den Main, den alten Palmengarten und die neue Zeil. Ich sehe auch unter der ausgefressenen Unternehmermaske immer noch das Trümmergesicht. Ich glaube, man liebt die Städte, in denen man die schlimmsten Zeiten erlebt hat, die ja in mancher Beziehung auch die guten waren.“ Von 1941 bis zu ihrem Tod im Jahr 1974 hatte die Dichterin eine Wohnung in Frankfurt, und immer wieder gab sie der Stadt eine wichtige Rolle in ihren Werken. Heute ist Marie Luise Kaschnitz nicht nur in ihrer Wahlheimat Frankfurt fast vergessen.

Anlässlich des 100. Geburtstags von Marie Luise Kaschnitz lädt eine Veranstaltungsreihe der Stadt Frankfurt am Main dazu ein, die Schriftstellerin neu zu entdecken. In Zusammenarbeit mit dem Insel Verlag, dem Hessischen Rundfunk, dem Literaturhaus Frankfurt, der Romanfabrik, dem Institut für Stadtgeschichte und der Kulturothek wird ein vielfältiges Programm zu Leben und Werk der Autorin geboten, von einer Podiumsdiskussion „Warum Kaschnitz heute lesen?“ bis zum Stadtspaziergang auf den Spuren der Dichterin. Am 4. Februar wird „die“ Kaschnitz mit einer Matinée im Deutschen Architektur-Museum geehrt. Außerdem ist im September eine Ausstellung, die das Deutsche Literaturarchiv Marbach zur Biographie der Schriftstellerin erarbeitet hat, dank der Frankfurter Bürger-Stiftung im Holzhausenschlösschen zu sehen.

Im „Hauptberuf“, so hat Marie Luise Kaschnitz selbst einmal erzählt, sei sie ver­heiratet gewesen: „Ich musste dafür sorgen, dass mein Mann möglichst gut arbeiten konnte und dass er und unser Kind möglichst glücklich waren. Trotzdem habe ich auch damals immer gearbeitet und meine eigene Gedanken- und Ideenwelt gehabt.“ Die am 31. Januar 1901 in Karlsruhe geborene Offizierstochter hatte 1925 den Archäologen Guido Freiherr von Kaschnitz-Weinberg geheiratet. Drei Jahre später wurde ihre einzige Tochter, Iris Constanza, geboren. Um diese Zeit begann Marie Luise Kaschnitz zu schreiben. Schnell stellten sich erste Erfolge ihrer Arbeit ein: 1930 veröffentlichte sie in einer bei Bruno Cassirer herausgegebenen Anthologie ihre erste Erzählung, ihr erster Roman „Liebe beginnt“ erhielt 1933 Lob von Ricarda Huch, und 1935 wurde eines ihrer Gedichte in einem Preisausschreiben der Illustrierten „Die Dame“ prämiert.

1941 begleitete Marie Luise Kaschnitz ihren Mann, der eine Professur an der Frankfurter Universität übernommen hatte, in die Stadt am Main. Nach den schweren Luftangriffen des Jahres 1944 floh die Familie zunächst nach Kronberg, dann auf das Familiengut in Bollschweil bei Freiburg im Breisgau. Aber bereits 1946, als die Universität wiedereröffnet wurde, kehrten sie zurück nach Frankfurt. Im Angesicht der zerstörten Stadt schrieb Marie Luise Kaschnitz ihren Gedichtzyklus „Rückkehr nach Frankfurt“: „Sage, wie es begann. / Wie sah sie dich an / Aus ihren erloschenen Augen, / Die Stadt?“ Das Werk gilt inzwischen als typisches Beispiel für die deutsche Trümmerliteratur der frühen Nachkriegsjahre. „Aber“, so meinte Kaschnitz, „es kommt doch noch etwas ganz anderes darin zu Wort: Frankfurt ist da gewissermaßen ein Urwald, eine Urlandschaft, in der erst alles neu beginnen muss und auch neu beginnt.“

Künftig lebte Marie Luise Kaschnitz abwechselnd in Frankfurt, Rom und auf ihrem Familiengut in Bollschweil. Ihre Beziehungen zur Stadt am Main waren vielfältig. So erschienen ihre Nachkriegswerke im nunmehr hier angesiedelten Insel Verlag, sie arbeitete als Hörspielautorin mit dem Hessischen Rundfunk zusammen und schrieb Rezensionen für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“. Im Sommersemester 1960 las Kaschnitz als Gastdozentin für Poetik an der Frankfurter Universität über „Gestalten europäischer Dichtung von Shakespeare bis Beckett“. Ihren Lehrauftrag für Poetik nahm sie wörtlich: Sie schloss der Vorlesung ein Seminar zur Vermittlung schriftstellerischer Arbeitstechniken an. Ihre vierzig Studierenden mussten regelrechte Hausaufgaben erledigen, etwa den Platz an der Bockenheimer Warte beschreiben. Damit wollte ihre Dozentin prüfen, ob sie auch wirklich sehen konnten, was ihnen täglich vor Augen war.

Die Dichterin selbst hat diese Fähigkeit gerade in ihrem Spätwerk bewiesen, vor allem in den autobiographischen Prosawerken „Tage, Tage, Jahre“ (1968) und „Orte“ (1973), in denen sie als „Zeugin ihrer Zeit“ immer wieder auch das alltägliche Leben und Geschehen in der Stadt Frankfurt thematisiert. So beginnen die tagebuchartigen Aufzeichnungen „Tage, Tage, Jahre“ mit einem Eintrag vom 22. Februar 1966, der durch eine Notiz in einer Frankfurter Zeitung veranlasst wurde. Ganz in der Nähe ihrer Wohnung im Westend, so hatte die Schriftstellerin gelesen, sollte ein neues „Pilzhaus“, ein reines Funktionshaus mit 40 Stockwerken, aus dem Boden schießen. Marie Luise Kaschnitz sieht damals schon die drohende Gefahr der Aushöhlung des Viertels, das in den 70er Jahren durch Immobilienspekulation zum Schauplatz heftiger politischer Auseinandersetzungen wurde.

Die Autorin wurde von ihrer Wahlheimat mit hohen Auszeichnungen bedacht, so mit der Goetheplakette der Stadt Frankfurt (1966) und der Ehrendoktorwürde der Philosophischen Fakultät der Frankfurter Universität (1968). Am 10. Oktober 1974 ist Marie Luise Kaschnitz in Rom gestorben. In Frankfurt erinnert eine Gedenktafel an ihrem Wohnhaus in der Wiesenau 8, nahe der Bockenheimer Landstraße, an die Dichterin.

Sabine Hock

Wochendienst, hg. v. Presse- und Informationsamt der Stadt Frankfurt am Main, Nr. 2 vom 16.01.2001

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