Das Frankfurter Gretchen

Ein soeben erschienenes Buch dokumentiert die Prozessakte der Kindsmörderin

Der Fall der Kindsmörderin Susanna Margaretha Brandt hat Goethe zur Gretchentragödie im „Faust" inspiriert. Als Beitrag zum Goethejahr hat das Institut für Stadtgeschichte nunmehr eine kommentierte Edition der Akte vorgelegt. Herausgeberinnen des im C.H. Beck Verlag erschienenen Buchs sind Rebekka Habermas und Tanja Hommen.

Frankfurt am Main (pia) - Seit August 1771, als der junge Goethe nach Abschluss seines Jurastudiums in seine Heimatstadt Frankfurt zurückkehrte, „setzte ein entdecktes großes Verbrechen, dessen Untersuchung und Bestrafung die Stadt auf viele Wochen in Unruhe“, so Goethe in seinen Erinnerungen „Dichtung und Wahrheit“. Es ging um Kindsmord: Der 25-jährigen ledigen Dienstmagd Susanna Margaretha Brandt wurde damals der Prozess gemacht, weil sie heimlich einen Sohn zur Welt gebracht und direkt nach der Geburt getötet haben sollte. Das Schicksal der Brandtin inspirierte Goethe zur Gretchentragödie im „Faust“, dessen Urfassung er 1772 in seinem Elternhaus im Großen Hirschgraben niederzuschreiben begann. Details bis hin zu einzelnen Formulierungen schöpfte der Dichter aus der Kriminalakte des „echten“ Falles, die er, seit dem 31. August 1771 als Advokat in seiner Vaterstadt zugelassen, offenbar einsehen konnte.

Jene Kriminalakte über den Prozess wider die Kindsmörderin Susanna Margaretha Brandt hat sich bis heute erhalten. Im Institut für Stadtgeschichte wird der Band wie ein Schatz hinter den Stahltüren der Privilegienkammer gehütet. Dennoch kann es jetzt jeder Goethe gleichtun und dessen Quelle für den „Faust“ studieren. Das Institut für Stadtgeschichte legt eine vollständige und kommentierte Edition der Akte vor, die die Historikerin Rebekka Habermas in Zusammenarbeit mit Tanja Hommen herausgegeben hat. Das soeben im Verlag C. H. Beck erschienene Buch „Das Frankfurter Gretchen“ (304 S., 48 Mark) ist ein beeindruckendes Dokument der Alltags- und Rechtsgeschichte des 18. Jahrhunderts.

Insgesamt 335 Blätter, Verhörprotokolle und Rechtsgutachten, Verteidigungsschrift und Urteil, schließlich einen ausführlichen Bericht des Ratsschreibers über die Hinrichtung der Delinquentin, enthält die Originalakte. Die Herausgeberinnen haben das historische Material für das Buch neu sortiert und gemäß dem Pro­zessverlauf in vier Abschnitte gegliedert: Untersuchung, Verteidigung, Urteil, Hinrichtung. Demgemäß beginnt die Geschichte am 2. August 1771 mit der Anzeige der Ehefrau des Tambours König, „daß ihre in dem Gasthauß zum Einhorn dahier bey der Wittib bauerin als Magd in diensten stehende Schwester Nahmens Susanna brandtin wegen einer verheimlichten Geburt sehr verdaechtig seye“.

Noch am selben Abend wurde am mutmaßlichen Tatort, in der Waschküche des Gasthauses zum Einhorn, die Leiche eines neugeborenen Kindes entdeckt. Tags darauf wurde die Verdächtige am Bockenheimer Tor verhaftet und zunächst ins Hl. Geist-Spital gebracht. Dort wurde sie am 5. August 1771 mit dem mittlerweile sezierten, beerdigten und wieder exhumierten Kindsleichnam konfrontiert, worauf sie „bald weiß bald roth“ wurde und schließlich ein Geständnis ablegte.

Vom Vater des Kindes wusste sie noch nicht einmal den Namen. Es sei ein holländischer Kaufmannsdiener gewesen, der auf der Durchreise im Gasthaus zum Einhorn logiert habe. „Er hätte ihr etliche Gläser Wein zu trinken gegeben“, gab sie zu Protokoll, „wodurch sie der gestalten in die Hitze gekommen, daß sie seinen Einfällen nicht wieder stehen können, so daß er sie auf das bett gezerret, und daselbsten die Unzucht mit ihr getrieben ( ).“ Nach der Ostermesse bemerkte Susanna, dass sie schwanger war. Am Abend des 1. August 1771 spürte sie plötzlich „ein starckes Reissen im Leib“. Gegen acht Uhr wurden die Schmerzen so heftig, dass sie sich gerade noch in die Waschküche zurückziehen konnte, wo sie von der sturzartigen Geburt des Kindes überrascht wurde. Voller Panik würgte sie das Neugeborene und schlug es mit dem Kopf gegen ein Fass, bis es keinerlei Lebenszeichen mehr von sich gab.

Nachdem das umfassende Geständnis der Delinquentin vorlag, folgte keinerlei mündliche Verhandlung mehr. Die Richter fällten ihr Urteil allein auf Grundlage der Akten, ohne die Angeklagte jemals gehört zu haben. Am 7. Januar 1772 bestätigte der Rat der Stadt den Richterspruch, dass Susanna des Kindsmords schuldig und sie deshalb „ihr zu wohlverdienten Straffe, und anderen zum abscheulichen Exempel, mit dem Schwerd vom Leben zum Todt zu bringen“ sei. Eine Woche später wurde das Urteil auf dem Platz an der Hauptwache vollstreckt.

Heute käme Susanna mit einer milderen Strafe davon. Zum 249. Geburtstag Goethes nahm 1998 ein „Gericht“ mit dem Richter am Hessischen Staatsgerichtshof Roland Kern als Vorsitzendem, dem Leitenden Oberstaatsanwalt Hubert Harth und dem Rechtsanwalt Dr. Rüdiger Volhard den Prozess gegen die Dienstmagd in zweiter Instanz auf. Sie verurteilten Susanna „wegen Kindstötung in einem minder schweren Fall“ zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren auf Bewährung. Eine Wiederholung dieses Prozesses für die interessierte Öffentlichkeit wird derzeit vom Institut für Stadtgeschichte geplant.

Sabine Hock

Wochendienst, hg. v. Presse- und Informationsamt der Stadt Frankfurt am Main, Nr. 40 vom 12.10.1999

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