Goethe und die Juden

Von des Dichters ambivalenter Einstellung zum Judentum

Goethe schätzte die kulturellen und geistigen Leistungen des jüdischen Volkes sehr hoch, zugleich hatte er aber Vorbehalte gegen die politische und soziale Gleichstellung des jüdischen Bürgertums. Goethes zwiespältige Einstellung ist auch Thema einer Ausstellung und eines Symposiums des Frankfurter Jüdischen Museums.

Frankfurt am Main (pia) - Die Frankfurter Judengasse zog den jungen Goethe magisch an - und stieß ihn zugleich ab. Mit beinahe wohligem Schauer betrat der Knabe das 1462 eingerichtete Ghetto entlang der Staufenmauer am östlichen Rand der Altstadt, wo seinerzeit (um 1750) rund 2500 Juden auf engstem Raum zusammenlebten. „Die Enge, der Schmutz, das Gewimmel, der Akzent einer unerfreulichen Sprache“, erinnert er sich später, „alles zusammen machte den unangenehmsten Eindruck, wenn man auch nur am Tore vorbeigehend hineinsah. Es dauerte lange, bis ich allein mich hineinwagte, und ich kehrte nicht leicht wieder dahin zurück, wenn ich einmal den Zudringlichkeiten so vieler, etwas zu schachern unermüdet fordernder oder anbietender Menschen entgangen war. Dabei schwebten die alten Märchen von Grausamkeit der Juden gegen die Christenkinder (...) düster vor dem jungen Gemüt.“ Mit dieser 1811 erschienenen und weit verbreiteten Schilderung in „Dichtung und Wahrheit“ trug Goethe dazu bei, dass seit der Romantik die Judengasse vom realen Lebensraum der jüdischen Gemeinschaft zu einem mystischen Ort verklärt wurde.

Im heutigen Stadtbild erinnert an das ab 1864 abgerissene Ghetto nur noch das Museum Judengasse, eine Dependance des Jüdischen Museums am Börneplatz. In der dortigen Börnegalerie wird am 4. September die Ausstellung „Goethe und die Judengasse“ eröffnet, die bis zum 24. Oktober zu sehen sein wird. Begleitend wird sich am 4./5. September ein wissenschaftliches Symposium mit „Goethes Begegnung mit Juden und Judentum“ auseinander setzen, einem Thema, das in der Literaturwissenschaft der Nachkriegszeit wenig beachtet wurde. Dabei prägte gerade Goethes zwiespältige Haltung zum Judentum die Rezeption des Dichters von der Gründerzeit bis in die Weimarer Republik: Während das jüdische Bildungsbürgertum die Kenntnis von Goethes Werk zum Beweis für die vollzogene Judenemanzipation und für die soziale Integration nahm, vereinnahmten deutsch­nationale Kreise unter Verweis auf geschickt ausgewählte judenfeindliche Dichterworte Goethe als Geistesgröße exklusiv für sich.

Tatsächlich zeigte Goethe zeit seines Lebens eine widersprüchliche Haltung zum Judentum. Die frühen Besuche in der Judengasse regten ihn dazu an, „die realen Juden als ethnologisches Kuriosum“ (Adolf Muschg) zu betrachten und zu studieren. „Außerdem“, schreibt Goethe - nicht ohne herablassenden Unterton - in „Dichtung und Wahrheit“, „waren sie ja auch Menschen, tätig, gefällig, und selbst dem Eigensinn, womit sie an ihren Gebräuchen hingen, konnte man seine Achtung nicht versagen. Überdies waren die Mädchen hübsch und mochten es wohl leiden, wenn ein Christenknabe, ihnen am Sabbat auf dem Fischerfelde begegnend, sich freundlich und aufmerksam bewies. Äußerst neugierig war ich daher, ihre Zeremonien kennenzulernen. Ich ließ nicht ab, bis ich ihre Schule öfters besucht, einer Beschneidung, einer Hochzeit beigewohnt und von dem Laubhüttenfest mir ein Bild gemacht.“ Damals rang der wissbegierige Knabe seinem Vater auch die Erlaubnis ab, Hebräisch lernen zu dürfen, was ihn schließlich befähigte, die Bibel im Originaltext zu lesen. Voller Hochachtung vor den kulturellen und geistigen Leistungen des Volkes der Bibel griff er künftig in seinen eigenen Werken, von frühesten Dramenentwürfen bis zum späten Gedichtzyklus des „West-östlichen Divan“, immer wieder auf alttestamentarische Motive zurück.

Im Mai 1774 brach „ein heftiger Brand“ in der Judengasse aus. Der knapp 25­jährige Goethe half spontan - „gut angekleidet wie [er] ging und stand“ - beim Löschen, organisierte sogar eine Eimerkette zum effizienteren Arbeitseinsatz. Dabei handelte er offenbar mehr aus allgemein menschlichen als aus besonders philosemitischen Beweggründen. Denn als die Judengasse beim französischen Bombardement der Stadt am 13./14. Juli 1796 erneut abbrannte, empfahl Goethe bei seinem Frankfurtbesuch 1797 durchaus den Wiederaufbau des Ghettos, wenn er auch dessen Erweiterung nach Osten, zum Rechneigraben hin, für überlegenswert hielt.

Doch das Ghetto wurde nicht wieder eingerichtet. Dem faktischen Ende folgte 1811 die juristische Abschaffung, als die Juden im Großherzogtum Frankfurt vorübergehend (bis 1813) die bürgerliche Gleichstellung erhielten. Goethe machte keinen Hehl daraus, dass ihm die Judenemanzipation missfiel. Bereits als der Fürstprimas Carl Theodor von Dalberg 1807 die - noch wesentlich restriktivere - „Neue Stättigkeits- und Schutzordnung der Judenschaft zu Frankfurt am Main“ erlassen hatte, reagierte der Dichter mit Unwillen. An Bettine Brentano, die ihm das Dokument nach Weimar geschickt hatte, schrieb er damals: „Es ist recht wunderlich, daß man eben zur Zeit, da so viele Menschen todtgeschlagen werden, die übrigen aufs beste und zierlichste auszuputzen sucht.“

Noch deutlicher wurde Goethe in einem Brief an den Bankier Johann Jacob Willemer, den er etwa zur gleichen Zeit wie die Schilderung der Judengasse in „Dichtung und Wahrheit“ verfasste. „Ich enthalte mich aller Theilnahme an Juden und Judengenossen“, erklärt er darin lakonisch. Dabei hatte Goethe selbst durchaus geachtete jüdische Freunde und schätzte die jüdischen Philosophen Spinoza und Mendelssohn. Nichtsdestotrotz gab er sich erleichtert, als mit dem Ende der napoleonischen Herrschaft die Gleichstellung der Juden auch in Frankfurt wieder rückgängig gemacht wurde.

Sabine Hock

Wochendienst, hg. v. Presse- und Informationsamt der Stadt Frankfurt am Main, Nr. 34 vom 31.08.1999

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