Im Bauch der Stadt

Als der Scharfrichter noch für die städtische Hygiene sorgte

Dass die Geschichte der Stadtentwässerung zugleich Medizin- Technik- und Mentalitätsgeschichte ist, zeigt die jetzt als Buch erschienene Studie des Historikers Dr. Thomas Bauer. Er gibt einen Längsschnitt der Geschichte der Kanalisation und Hygiene in Frankfurt am Main vom 16. bis 19. Jahrhundert.

Frankfurt am Main (pia) - Mit den drei bis fünf Hinrichtungen pro Jahr war der städtische Henker nicht ausgelastet, und leben konnte er davon auch nicht. Sein Jahresgehalt von 26 Gulden war bestenfalls ein Taschengeld. Seit dem 16. Jahrhundert übte daher der Scharfrichter zugleich das Amt des Wasenmeisters aus. Als solcher war er etwa für das Abdecken von Tierkadavern und die Reinigung der Abtrittgruben zuständig. Das einen höllischen Gestank verbreitende Fegen der „Profeien“ durfte der Wasenmeister mit Rücksicht auf die Anwohner nur bei Nacht und möglichst nur in den Wintermonaten erledigen. Seine eigenen Hände machte er sich dabei allerdings nicht schmutzig. Vielmehr ließ er seine Knechte die Fäkalien eimerweise aus den Gruben schöpfen, auf ein Fuhrwerk laden und von der Brücke in den Main kippen.

Die wichtige Rolle des Scharfrichters bei der Stadtentwässerung hat der Historiker Dr. Thomas Bauer anhand der erhaltenen Wasenmeisterbücher, die lange unbeachtet im Institut für Stadtgeschichte lagen, erforscht und in seiner jetzt als Buch erschienenen Studie „Im Bauch der Stadt“ dargestellt. Das umfangreiche Werk, das auf Bauers mit dem Johann Philipp von Bethmann-Studienpreis 1992 ausgezeichnete Dissertation zurückgeht, bietet erstmals einen Längsschnitt durch die Geschichte der „Kanalisation und Hygiene in Frankfurt am Main“ vom 16. bis zum 19. Jahrhundert. Wer das etwas unappetitliche Thema nicht scheut, kann allerhand Überraschendes zur Medizin-, Technik- und Mentalitätsgeschichte entdecken.

Auch wenn die stadtgeschichtlichen Quellen keinen Geruch überliefern können, lässt sich daraus schließen, dass die Luft in der frühneuzeitlichen Stadt nicht besonders rein gewesen sein dürfte. „Stadtluft macht krank“, diagnostizierten die Stadtärzte. Sie machten Miasmen - aus verunreinigtem Erdreich oder verschmutzten Gewässern aufsteigende faulige Dünste - für die Übertragung von Krankheiten wie Pest oder Cholera verantwortlich. Solche Miasmen kamen etwa aus den Profeien und den Antauchen hoch, den damals üblichen Einrichtungen zur Entwässerung der Häuser.

Die Profeien, die gemauerten Abortgruben, fassten zwischen 30 und 50 Kubikmeter Urin und Kot und konnten, da ein Großteil der Fäkalien in den Boden und gar ins Grundwasser versickerte, oft jahrzehntelang ungereinigt benutzt werden. Erst wenn sie überzulaufen drohten, wurde der Wasenmeister zum „Fegen“ bestellt. So berichtete etwa Goethes Vater im März 1773 ganz stolz, dass er die Abortgrube seines Hauses am Großen Hirschgraben erst nach vierzigjähriger Benutzung habe säubern lassen müssen.

Die Senkgrube des Goethehauses hatte nämlich den Vorteil, an eine Antauche angeschlossen zu sein. Diese Antauchen waren ursprünglich an der Stadtgrenze gelegene Wassergräben, die nach der Stadterweiterung nicht mehr zur Befestigung gebraucht wurden und seitdem als Abzugskanäle der Entwässerung dienten. Nur zum Teil wurden die nach dem Schwemmprinzip funktionierenden Antauchen abgedeckt; oft flossen die Abwässer offen durch die Straßen der Stadt. Obwohl eigentlich als Provisorium gedacht, stieß dieses alte Entwässerungssystem erst im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts, angesichts wachsender Einwohnerzahlen und drohender Cholera-Epidemien, an seine Grenzen.

Insbesondere der Arzt und Kommunalpolitiker Dr. Georg Varrentrapp trat seit 1854 entschieden für die Anlage einer systematischen Schwemmkanalisation nach englischem Vorbild ein. Zu deren Bau konnten sich Gesetzgebende Versammlung und Senat jedoch erst 1864/65 entschließen, nachdem sich die Ent­sorgungsproblematik im damals neu bebauten Westend zugespitzt hatte. Im Jahre 1867 begann unter der Leitung des Ingenieurs William G. Lindley der Bau der Schwemmkanalisation. Noch immer wurde allerdings heiß darum gestritten. Ein kleiner Kreis von Stadtverordneten um Otto Volger kritisierte die gewählte Technologie, weil sie einen hohen Bedarf an Spülwasser voraussetzte, die als Dünger notwendigen Fäkalien dem natürlichen Kreislauf entzog und zur erheblichen Verunreinigung des Mains führte.

In der viel diskutierten „Flussverunreinigungsfrage“ wurde auf Druck der zuständigen Berliner Ministerien letztlich ein Kompromiss geschlossen: Die Stadt musste ein Klärwerk mit mechanischer und chemischer Reinigungsstufe bauen. Als erste Großkläranlage auf dem europäischen Kontinent ging das bei Niederrad errichtete Werk 1887 in Betrieb. Zehn Jahre später, nach dreißigjähriger Bauzeit, wurde die Kanalisation vollendet, und im Jahr 1900 wurden auch die letzten Antauchen beseitigt. Frankfurt, dank seiner hygienischen Entwicklung bereits 1877 „die gesündeste Stadt der Erde“ genannt, war entwässerungstechnisch fit fürs nächste Jahrhundert und geht auf der Basis des damals entwickelten Kanalisationskonzepts noch in das neue Jahrtausend.

Sabine Hock

Wochendienst, hg. v. Presse- und Informationsamt der Stadt Frankfurt am Main, Nr. 25 vom 22.06.1999

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