Arno Lustiger forscht wider das Vergessen

Neues Werk des Historikers über die Geschichte der Juden in der Sowjetunion

„Fragt uns aus - wir sind die Letzten“, ist ein Leitmotiv des Frankfurter Privatgelehrten Arno Lustiger. Nach Publikationen zur jüdischen Geschichte Frankfurts und zum jüdischen Widerstand in Europa hat Lustiger nun ein neues Werk mit dem Titel „Rotbuch: Stalin und die Juden“ veröffentlicht.

Frankfurt am Main (pia) - Der Privatgelehrte Arno Lustiger, der am 7. Mai nächsten Jahres seinen 75. Geburtstag feiern wird, beschäftigt sich in seinem neuen, im Aufbau-Verlag erschienenen Buch mit der tragischen Geschichte der sowjetischen Juden und vor allem des Jüdischen Antifaschistischen Komitees. Dieses Komitee aus jüdischen Intellektuellen hatte sich 1941 in Moskau zusammengeschlossen, um an der Seite der Sowjetunion Hitler und den Nationalsozialismus zu bekämpfen. Stalin, der sich das Komitee zunächst zunutze machte, ließ es fallen, als es nicht mehr in sein politisches Konzept passte. Am 12. August 1952 wurden die führenden Köpfe des Komitees heimlich hingerichtet. Erst Lustiger hat in seinem „Rotbuch“ die Hintergründe dieses stalinistischen Verbrechens völlig aufgedeckt.

Drei Jahre lang hat Lustiger nachgeforscht, in allen möglichen Archiven in Moskau, in New York und in Israel. Seine ungeheuren Sprachkenntnisse - er beherrscht Deutsch, Englisch, Französisch, Spanisch, Russisch, Polnisch und Jiddisch - haben ihm dabei geholfen. Trotzdem musste er viel Energie aufbringen. „Ich habe eine sehr unökonomische Arbeitsweise“, sagt er. „Andere Kollegen lesen drei Bücher zu einem Thema und schreiben dann ein viertes darüber. Ich recherchiere so viel, dass ein Buch daraus werden könnte - und veröffentliche nur einen Artikel.“ Seine fundierten historischen Beiträge erscheinen etwa in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ und der „Frankfurter Rundschau“.

In allen seinen Artikeln und Büchern schreibt Lustiger wider das Vergessen an. Über das Leid, das ihm selbst in der NS-Zeit widerfahren ist, konnte Arno Lustiger hingegen lange nicht reden. Als ihn seine beiden Töchter früher fragten, was denn die eintätowierte Nummer „A-5592“ auf seinem Arm zu bedeuten habe, sagte er den Kindern, es handle sich um eine Telefonnummer, die er sich anders nicht merken könne. Es war seine Häftlingsnummer aus dem KZ.

Der 15-jährige Schüler Arno Lustiger, der in seiner Geburtsstadt Bedzin in Polnisch-Oberschlesien ein jüdisches Gymnasium besuchte, wollte gern studieren. Doch kurz nach dem Überfall auf Polen kamen die deutschen Truppen auch nach Bedzin. In der Nacht zum 9. September 1939 trieben die Nazis die Juden in die Synagoge und zündeten sie an. Zweihundert Menschen verbrannten bei lebendigem Leib. Lustiger wurde später deportiert. Er überlebte die Haft in verschiedenen KZs, u. a. im Arbeitslager Auschwitz-Blechhammer, und zwei Todesmärsche des Jahres 1945. Auf der Flucht im Harz von amerikanischen Soldaten gerettet, diente er zunächst freiwillig als Dolmetscher in der US-Army und kam schließlich in das „Displaced Persons“-Lager nach Frankfurt-Zeilsheim.

Von dort aus suchte er nach seiner ebenfalls von den Nazis verschleppten Familie. Er fand Mutter und Schwester in Schlesien, krank durch die Arbeit in einer Munitionsfabrik, und holte sie zu sich. Die geplante Emigration scheiterte an der schlechten Gesundheit der beiden Frauen. Lustiger blieb in Frankfurt, ergriff einen Brotberuf in der Bekleidungsindustrie und baute die Frankfurter Jüdische Gemeinde neu mit auf. Erst als er sich 1983 aus dem Geschäftsleben zurückzog, konnte er einen alten Traum verwirklichen: Er widmet sich seitdem intensiv der historischen Forschung und schreibt Bücher darüber.

Bei dem Schweigemarsch zum 40. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz 1985 in Frankfurt brach es schließlich aus Arno Lustiger heraus. An jeder Station des Menschenzugs sollte ein ehemaliger KZ-Häftling einige Worte sagen, und am alten JüdischenFriedhof in der Battonnstraße redete nun auch Lustiger: über Auschwitz, die Todesmärsche, das Leiden und das Sterben. Zum ersten Mal sprach er darüber. Hans Sahls Wort „Fragt uns aus - wir sind die Letzten!“ wurde künftig zu Lustigers Leitmotiv. Im Gedenken an seine Mithäftlinge im KZ, von denen viele im jüdischen Kampf gegen Faschismus und Nationalsozialismus Großartiges geleistet hatten, schrieb er eine Geschichte der Juden im Spanischen Bürgerkrieg („Schalom Libertad“, 1989) und die erste Gesamtdarstellung des jüdischen Widerstands in Europa von 1933 bis 1945 („Zum Kampf auf Leben und Tod!“, 1994).

Das letztere Buch ist inzwischen als Standardwerk anerkannt und im vergangenen Jahr auch als Taschenbuch erschienen. Dennoch warf ein Kritiker dem Autor vor, es fehle darin eine Typologie des jüdischen Widerstands. Der Vorwurf trifft Lustiger gar nicht: „Ich will in meinen Büchern kein theoretisches Gebäude errichten“, erwidert er. „Ich schreibe nicht für Professoren, sondern für Menschen.“ Aber auch über Menschen will er schreiben, und er legte daher in seinem neuesten Buch besonderen Wert auf den biographischen Teil, der die Lebensgeschichte zahlreicher jüdischer Politiker und Intellektueller in der UdSSR erzählt. Insgesamt hat Arno Lustiger im Laufe seiner Forschungsarbeit bereits rund 5000 Namen von jüdischen Widerstandskämpfern dem Vergessen entrissen. Und darauf ist der ansonsten so bescheidene Forscher wirklich stolz.

Sabine Hock

Wochendienst, hg. v. Presse- und Informationsamt der Stadt Frankfurt am Main, Nr. 45 vom 17.11.1998

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