„Gericht und Gesellschaft“

Dokumente Frankfurter Kriminalgeschichte zum Anfassen

Anlässlich des 42. Historikertages, der vom 8. bis 11. September in Frankfurt stattfindet, gibt das Institut für Stadtgeschichte ausgewählte Gerichtsakten zur Ansicht. Nachzulesen ist auch der Fall der Kindsmörderin Susanna Margaretha Brandt, die Goethe als Vorbild für sein „Gretchen“ diente.

Frankfurt am Main (pia) - Als Kapitän Peter Ferdinand Lebon nach Frankfurt kam, hatte er angeblich ein Wundermittel in der Tasche: ein Geheimrezept zur Goldherstellung. Mit dem Versprechen auf eine Beteiligung an dem sagenhaften Gewinn, den er demnächst aus der Goldfabrikation zu erwarten hätte, quartierte er sich und seine Verwandten bei einem Gastwirt in der Stadt ein. Zwei Jahre lang lebten Lebon und sein „Völcklein“ hier in Saus und Braus - und bezahlten dafür keinen Pfennig. Dann ließ sich der Wirt nicht länger beschwatzen: Er versuchte, mit einem Trick an sein Geld zu kommen. Das wiederum wollte sich Lebon nicht gefallen lassen. Er ging vor Gericht. In den Akten des von 1717 bis 1720 vor dem Reichskammergericht geführten Prozesses, die im Frankfurter Institut für Stadtgeschichte erhalten sind, findet sich auch jene „Rezeptur zur Goldgewinnung“, aus der Lebon zwar kein Gold, aber Geld zu machen verstand.

Diese und andere ausgewählte Gerichtsakten aus seinen Beständen wird das Institut für Stadtgeschichte nun ans Licht der Öffentlichkeit holen und anlässlich des 42. Deutschen Historikertags in Frankfurt vom 8. bis zum 11. September 1998 im Refektorium des Karmeliterklosters zeigen. Die öffentliche Präsentation mit dem Titel „Gericht und Gesellschaft“ wird mehr sein als eine bloße Ausstellung, denn die Besucher dürfen hier selbst in den teilweise jahrhundertealten Akten blättern und so die Aura der ursprünglichen Quellen erspüren.

„Wir wollen die Besucher dazu anregen, ihre Entdeckungen selber zu machen“, sagt Prof. Dr. Dieter Rebentisch, der Leiter des Instituts für Stadtgeschichte. „Ich wehre mich einfach dagegen, dass Geschichte zur reinen Buchwissenschaft verkommt. In der Fachliteratur gibt es doch nichts mehr zu entdecken, in den unveröffentlichten Quellen schon.“ Rebentisch hofft, dass durch die Präsentation auch Professoren einen Eindruck von den bedeutenden Beständen des Instituts, des ehemaligen Stadtarchivs, gewinnen und ihre Studenten mit neuen Forschungsaufgaben darauf lenken.

Nicht umsonst hat Rebentisch für die Präsentation ausgerechnet Gerichtsakten ausgesucht. Aufgrund ihrer breiten Überlieferung lässt sich an ihnen besonders gut die Entwicklung der städtischen Gesellschaft in Frankfurt vom Mittelalter bis zur Neuzeit illustrieren. So umfasst der Bestand „Criminalia“ allein Akten zu über 12.000 Strafrechtsfällen aus der Zeit von 1508 bis 1856, darunter auch die Protokolle der juristischen Untersuchungen nach dem Wachensturm von 1833 und dem Septemberaufstand von 1848. Die bei weitem umfangreichste Kriminalakte aus dem Bestand aber betrifft den Juristen Johann Erasmus Senckenberg, den Bruder des Arztes und Stifters. 26 Jahre seines Lebens verbrachte Senckenberg, ein „Rabulist“, der mehrfach den Rat der Stadt der Unfähigkeit, Korruption und Vetternwirtschaft beschuldigt hatte, in Arrest im ersten Stock der Hauptwache. Das Verfahren gegen diesen prominentesten Häftling der Stadtgeschichte schleppte sich so lange hin, bis er 1795 in seiner Zelle an Altersschwäche verstarb.

Während Senckenbergs dickes Sündenregister kaum komplett in der Präsentation zum Historikertag gezeigt werden kann, darf die bekannteste Gerichtsakte aus dem Bestand der „Criminalia“ nicht fehlen. Sie befasst sich mit der Kindsmörderin Susanna Margaretha Brandt, deren Fall aus dem Jahr 1771/72 Goethe das Vorbild für das „Gretchen“ im „Faust“ lieferte. Die entsprechende Akte enthält sogar ein corpus delicti: eine Schere, die die verzweifelte Brandtin allerdings nicht als Mordwaffe, sondern zum Durchtrennen der Nabelschnur benutzte.

Den „Criminalia“ gilt auch eines der nächsten Projekte des Instituts für Stadtgeschichte: Mit Unterstützung der Deutschen Forschungs-Gemeinschaft (DFG) soll die Historikerin Inge Kaltwasser den gesamten Bestand detailliert inventarisieren. Einen ähnlichen Katalog hat sie, ebenfalls dank der DFG, bereits für die Akten des Reichskammergerichts (1495-1806) und des Oberappellationsgerichts (1820-1866) erarbeitet. Die Bestandsverzeichnisse würden sich perfekt ergänzen, denn während die „Criminalia“ ausschließlich Strafrechtsfälle behandeln, befassen sich die Akten des Reichskammer- und des Oberappellationsgerichts fast nur mit Angelegenheiten des zivilen Rechts. Unter den über 3.500 darin überlieferten Prozessen finden sich wiederum einige spektakuläre, aber auch kuriose Fälle. So sind in einzelnen der zum Historikertag ausgestellten Akten des Oberappellationsgerichts die juristischen Begleiterscheinungen des Eisenbahnbaus in Frankfurt ab 1837 dokumentiert. Dabei geht es vor allem um Streitigkeiten wegen der Enteignung von Grundstücken für den Streckenbau. Eine solche Enteignung sollte bei der Anlage der Eisenbahn von Frankfurt nach Homburg gerichtlich verhindert werden - „aus moralischen Gründen“, denn in Homburg gab es damals schon eine Spielbank.

Außer der Präsentation „Gericht und Gesellschaft“ bietet das Institut für Stadtgeschichte den rund 4.000 erwarteten Teilnehmern des 42. Deutschen Historikertags weitere Veranstaltungen im Karmeliterkloster an, darunter die Wiederholung der Werbemarken-Ausstellung „Bitte, bitte, kleb`mich“ sowie ein Treffen der Landeshistoriker (am 9. September um 19.30 Uhr) und ein Erzählcafé „Die Swingjugend während des Zweiten Weltkriegs“ (u. a. mit Emil Mangelsdorff), verbunden mit einem Treffen der Stadthistoriker (am 10. September um 19 Uhr). Vor allem die beiden Historikertreffen sollen das offizielle Programm mit seinen 270 geplanten Vorträgen ergänzen, indem sie den Wissenschaftlern die Möglichkeit zu informellem Gespräch und Gedankenaustausch am Abend geben.

Sabine Hock

Wochendienst, hg. v. Presse- und Informationsamt der Stadt Frankfurt am Main, Nr. 34 vom 01.09.1998

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