Suleika und der Dichterfürst

Im Gartenhäuschen traf Goethe seine Muse Marianne Willemer

Die kleinste der Frankfurter Goethestätten, das Willemerhäuschen, ist ab April an Sonntagen wieder für Besucher geöffnet. 1814 und 1815 traf der Dichter hier mit Marianne Willemer zusammen, die ihn zur schönsten Liebeslyrik inspirierte.

Frankfurt am Main (pia) - In ihrem Sachsenhäuser Gartenhäuschen feierten der Frankfurter Bankier Johann Jakob Willemer, seine Frau Marianne und der Dichterfürst den Jahrestag der Völkerschlacht bei Leipzig. Vom Fenster des turmartigen Gebäudes auf dem Mühlberg aus beobachteten sie die Freudenfeuer auf den Taunushöhen. Voller Eifer zeigte Marianne auf die „Flämmchen“ über „Frankfurts Panoram“. „Kleiner Blücher“, neckte sie dafür der hohe Gast. Schließlich reichte ihm die Dame des Hauses einen Bleistift, und er verewigte sich auf dem Fensterpfosten: „Goethe den 18. Oktober 1814“.

Auch einen Vers soll er dazugeschrieben haben: „Ich besänft´ge mein Herz, mit süßer Hoffnung ihm schmeichelnd,/Eng ist das Leben fürwahr, aber die Hoffnung ist weit“. Das sei allerdings ein bißchen viel Text für einen Fensterpfosten, meinten spätere Interpreten. Ob der Vers wirklich dort gestanden hat, läßt sich nicht mehr überprüfen. Die ganze Inschrift wurde bereits um 1830 „in Folge von Unachtsamkeit zu Mariannes tiefem Verdruß übertüncht“, berichtete der Frankfurter Goetheforscher Theodor Creizenach.

Den Schauplatz der Begegnung Goethes mit Marianne Willemer aber gibt es noch. Das „Willemerhäuschen“ im Hühnerweg auf dem Sachsenhäuser Mühlberg ist die kleinste und beschaulichste Frankfurter Goethestätte. Sie kann an den Sonntagen der Sommermonate besichtigt werden. Die heutige Idylle des gepflegten Rokokogärtchens läßt jedoch nur ahnen, daß hier zu Goethes Zeiten ein grünes Paradies war. Inmitten von Weinbergen wurde das achteckige, verschieferte Türmchen einst erbaut, wahrscheinlich als Ausguck für die Weinbergwächter. Im Jahre 1809 kaufte Geheimrat Johann Jakob Willemer (1760-1838) Wingert und Haus. Ein halbes Jahrzehnt später, an jenem denkwürdigen Herbstabend von 1814, war der Besitzer mit seiner Frau Marian­ne (1784-1860) hier Goethes Gastgeber.

Die Bekanntschaft Willemers mit Goethe ging wahrscheinlich auf eine alte Frankfurter Familienfreundschaft zurück. Von seiner Mutter, der Frau Rat Goethe, einer eifrigen Theaterbesucherin, wird Goethe in Weimar auch von der aus Österreich stammenden Schauspielerin und Tänzerin Marianne Jung gehört haben, die als 14jährige im Gefolge des Tanzmeisters Traub 1748 an das Frankfurter Theater gekommen war. In dem Ballett vom Harlekin, der aus dem Ei schlüpft, war das Mädchen so allerliebst, daß der Dichter Clemens Brentano sein Herz an sie verlor. „Ich liebte sie still weg“, schrieb er 1803, doch Willemer habe sie von der Bühne genommen und „zu seinem Pflegekind (maitresse)“ gemacht. Tatsächlich hatte der theaterbesessene Witwer Willemer die 16jährige ihrer Mutter für 2000 Gulden und eine Leibrente regelrecht „abgekauft“.

Goethe lernte Marianne im Sommer 1814 kennen. Damals besuchte ihn „Willemer mit seiner kleinen Gefährtin“ (so Goethe in einem Brief an seine Frau Christiane) während einer Badekur in Wiesbaden. Goethe fühlte sich offenbar sofort stark zu Marianne hingezogen. Kurz darauf besuchte er sie und Willemer in Frankfurt. Drei Tage nach Goethes Abreise nach Heidelberg, wo er die Gemäldesammlung der Brüder Boisserée besichtigte, hat Willemer seine langjährige Geliebte Marianne plötzlich geheiratet. An der überstürzten Eheschließung, so will es die Legende, soll Goethe nicht unschuldig gewesen sein. Er habe Marianne derart den Hof gemacht, daß Willemer sich aus Eifersucht doch noch zur Legitimierung seiner Liaison mit Marianne habe hinreißen lassen. Nach der Rückkehr aus Heidelberg im Oktober 1814 fand Goethe jedenfalls seinen „würdige[n] Freund (...) in forma verheirathet“ vor, was ihn nicht an weiteren Besuchen bei der nunmehrigen „Frau Geheimräthinn Willemer“ hinderte. So kam es auch am 18. Oktober 1814 zu der Begegnung in dem Gartenhäuschen auf dem Mühlberg. Zwei Tage später fuhr Goethe nach Weimar zurück. In ihren Briefen beschworen er und Marianne jedoch immer wieder die Stimmung jenes Abends im Willemerschen Garten herauf.

Als Goethe im August des nächsten Jahres nach Frankfurt zurückkehrte, feierte er auf der Gerbermühle am 28. August 1815 im Kreise der Freunde seinen 66. Geburtstag und verbrachte hier die „allerschönste Zeit“, wie er später einmal schrieb. Derweil arbeitete er an seinem Gedichtzyklus des „Westöstlichen Divan“, schlüpfte selbst in die Rolle des Hatem, und Marianne wurde seine Suleika. Sie war dem Dichter mehr als nur inspirierende Muse. Einige der Gedichte aus dem „Buch Suleika", darunter die Lieder an den Ostwind und den Westwind, die zu den schönsten der deutschen Liebeslyrik gehören, stammen von Marianne selbst. Goethe hat sie stillschweigend in die Sammlung übernommen. Erst als „Großmütterchen“ vertraute die Autorin das Geheimnis ihrem jungen Gast Herman Grimm an, dem Sohn des Germanisten und Märchensammlers Wilhelm Grimm, der es einige Jahre nach Mariannes Tod (6.12.1860) offenbarte.

Das Willemerhäuschen auf dem Mühlberg aber verfiel nun immer mehr, bis die Stadt es erwarb und mit Hilfe des Freien Deutschen Hochstifts als Gedenkstätte herrichtete (1902). Bei dem schweren Luftangriff am 29. Januar 1944 wurde es von Brandbomben getroffen und brannte bis auf das steinerne Untergeschoß nieder. 1960 initiierten der Bezirksverein Sachsenhausen und sein Ehrenvorsitzender Friedrich Stoltze, der Enkel des gleichnamigen Frankfurter Mundartpoeten, den Wiederaufbau des Gartenhauses. Dank privater Spenden konnte das rekonstruierte Willemerhäuschen zum 150. Jahrestag der Begegnung Goethes mit Marianne am 18. Oktober 1964 wiedereröffnet werden.

Sabine Hock

Wochendienst, hg. v. Presse- und Informationsamt der Stadt Frankfurt am Main, Nr. 12 vom 24.03.1998

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