Wer war Frau Aja wirklich?

Wider die sprichwörtliche „Frohnatur“ der Dichtermutter Catharina Elisabeth Goethe (1731-1808)

Im Vorfeld der Feierlichkeiten zum 250. Geburtstag Goethes 1999 wurde das von dem Goetheforscher Ernst Beutler 1960 erstmals herausgegebene Buch „Goethe - Briefe aus dem Elternhaus“ neu aufgelegt. Der rund 1.000 Dünndruckseiten starke Briefband gibt ein anschauliches Bild vom Leben der Familie Goethe im Großen Hirschgraben. Auch die Biographie von Goethes Mutter Catharina Elisabeth wird dabei beleuchtet. Und es zeigt sich, dass „Frau Aja“ manchmal gar nicht so war, wie der Sohn sie gern sehen wollte.

„Vom Vater hab ich die Statur,
Des Lebens ernstes Führen,
Vom Mütterchen die Frohnatur
Und Lust zu fabulieren“,
dichtete einst Johann Wolfgang Goethe über seine Eltern. Dass gerade diese Verse immer wieder zitiert werden, wenn von der Mutter die Rede ist, dürfte ganz im Sinne des großen Sohnes sein. Denn Goethe wollte seine Mutter Catharina Elisabeth bewusst zur reinen „Frohnatur“ stilisieren. Er verbrannte deshalb sogar fast alle ihre Briefe aus der Zeit bis 1792. Keinerlei Äußerungen des Trübsinns oder der Trauer, wie sie sich etwa in den Briefen über den Tod ihres Mannes (1782) gefunden haben dürften, sollte die Nachwelt von der Frau Rat Goethe vernehmen. Systematisch gestaltete der Dichterfürst seine Mutter zum Mythos, der sich wunschgemäß auch prompt in den Köpfen aller Goetheverehrer festsetzte. In Frankfurt wurde das Klischeebild von der allzeit frohgemuten Dichtermutter sogar zu Stein: Zum 100. Todestag von Catharina Elisabeth Goethe 1908 ließ eine Initiative wohlhabender Frankfurter Frauen ein Denkmal anfertigen, das die freundliche „Frau Aja“ mit weißem Spitzenhäubchen zeigt, wie sie dem kleinen Wolfgang, ihrem „Hätschelhans“, Märchen erzählt. Das steingewordene Idealbildnis, das bis heute im Palmengarten zu sehen ist, verrät nichts von der wahren Persönlichkeit der Dargestellten. Obwohl Catharina Elisabeth Goethe heute mit Fug und Recht als die berühmteste Frankfurterin gelten darf, weiß niemand wirklich, wer sie war.

Über 400 Briefe von Catharina Elisabeth Goethe

Dabei hat die Goetheforschung inzwischen alle möglichen direkten Lebenszeugnisse zusammengetragen, die ein klares Bild von dieser ungewöhnlichen Frau geben, ohne dass sich der verklärende Filter davorschiebt, den der auf Imagepflege bedachte Sohn konstruiert hat. Über 400 Briefe von Catharina Elisabeth Goethe sind erhalten, darunter 159 an den Sohn aus den Jahren 1792 bis 1808, die dieser der Überlieferung würdig befand und nicht vernichtete. Außerdem schrieb „Frau Aja“ nicht nur an ihren „lieben Sohn“, sondern an alle möglichen Freunde und Bekannte, etwa an Lavater, Wieland, Charlotte von Stein und die Herzogin Anna Amalia von Sachsen-Weimar. An Frau von Stein, die Freundin in Weimar, schickte sie am 14. November 1785 einen Brief, in dem sie sich treffend selbst charakterisiert: „Ich habe die Menschen sehr lieb - und das fühlt alt und jung gehe ohne pretention durch diese Welt und das behagt allen Evens Söhnen und Töchtern - bemoralisire niemand - suche immer die gute seite aus zuspähen - überlaße die schlimme dem der den Menschen schufe und der es am besten versteht, die scharffen Ecken abzuschleifen, und bey dieser Medote befinde ich mich wohl, glücklich und vergnügt.“ Hier lässt sie selbst anklingen, was hinter ihrer „Frohnatur“ wirklich steckte: Es ging ihr durchaus nicht immer gut, aber sie wusste mit ihrer Heiterkeit manches zu überspielen und aus allem das beste zu machen - vor allem für die anderen. Für sich selbst setzte sie auf ihr Gottvertrauen, das es ihr leichter machte, ihr Los und manches Leid zu ertragen.

Erzogen zur Ehefrau

Am 19. Februar 1731 wurde Catharina Elisabeth als Tochter des Juristen Johann Wolfgang Textor und seiner Ehefrau Anna Margaretha geb. Lindheimer in Frankfurt am Main geboren. Seit 1747 bekleidete ihr Vater als Reichs-, Stadt- und Gerichtsschultheiß das höchste Amt in der alten Reichsstadt Frankfurt. Catharina Elisabeth erhielt in ihrem Elternhaus in der Friedberger Gasse jedoch nur die allernötigste Unterweisung in Schreiben, Rechnen und Religion, gerade genug, dass sie einmal ihren eigenen Haushalt würde führen können. Am 20. August 1748 wurde die Siebzehnjährige mit dem 38 Jahre alten Kaiserlichen Rat Johann Caspar Goethe verheiratet. In der ersten Zeit der Ehe versuchte der auf Disziplin bedachte Mann, seine junge Frau zu erziehen und zu bilden. Stetig hielt er sie zum Musizieren und Schreiben an, allerdings kaum mit dem erwünschten Erfolg, denn die Orthographie seiner eher impulsiv drauflos schreibenden Gattin blieb eher abenteuerlich.

Sieben Kinder

Nach einjähriger Ehe, am 28. August 1749, gebar Catharina Elisabeth ihr erstes Kind, den Sohn Johann Wolfgang. Fünfzehn Monate später, am 7. Dezember 1750, kam die Tochter Cornelia dazu. In den folgenden zehn Jahren brachte Catharina Elisabeth fünf weitere Kinder zur Welt; drei davon überlebten das Kleinkindalter nicht, eines wurde tot geboren, und der zweite Sohn Hermann Jakob starb 1759 im Alter von sechs Jahren. Während dieser Zeit musste die junge Frau außerdem den großzügigen Umbau des Hauses im Großen Hirschgraben in Kauf nehmen, den ihr Mann 1755/56 vornehmen ließ, und sie erlebte die Aufregungen des Siebenjährigen Krieges, der ihr 1759, nach der Besetzung der Stadt durch die Franzosen, die Einquartierung des französischen Stadtkommandanten Graf Thoranc ins Haus brachte. Häufig hatte die Rätin nun zwischen ihrem durch die Unbequemlichkeit der Einquartierung gereizten Mann und dem Grafen auszugleichen. Und über all dem vergaß sie nicht, ihren Kindern die Liebe zu geben, die diese vom Vater über dessen strengem Erziehungsplan entbehren mussten.

Zu Gast bei „Frau Aja“

Allmählich arrangierten sich die Eheleute in ihrem Zusammenleben. Die Goethes führten ein offenes, geselliges Haus. Zu Johann Caspar Goethe, der bereits seit 1745 privatisierte und ganz seinen Sammlungen und seiner Bibliothek lebte, kamen häufig andere Sammler und Gelehrte. Aber er, der Lutheraner, duldete auch die herrnhutisch bestimmten religiösen Zusammenkünfte seiner Frau, zu denen regelmäßig deren pietistisch geprägte Freundin Susanna Katharina von Klettenberg, die „Schöne Seele“ aus „Wilhelm Meisters Lehrjahren“, erschien. Später, als mit zunehmendem Alter des Hausherrn die Rätin immer mehr das Regiment im Großen Hirschgraben übernahm, brachte auch der Sohn alle seine Freunde aus dem „Sturm und Drang“ nach Hause mit. Die Mutter nahm die jungen Leute, denen sie in ihrem Gefühlsüberschwang große Sympathien entgegenbrachte, herzlich auf. Auch als 1775 die beiden Grafen Stolberg und Graf Haugwitz nach Frankfurt kamen, um den jungen Goethe mit auf die Reise in die Schweiz zu nehmen, wurde im Haus im Großen Hirschgraben getafelt. Die vier jungen Männer tranken und flachsten und, so berichtet es jedenfalls der Sohn in „Dichtung und Wahrheit“, verliehen Goethes gastfreundlicher Mutter scherzhaft den Namen „Aja“. So heißt in dem damals noch beliebten Volksbuch die Mutter der vier Haimonskinder, die Schwester Karls des Großen, die ihre Söhne mutig vor der Rache des Vaters bewahrte.

Die Küche der Frau Rat

Unter dem Namen „Frau Aja“ ist Goethes Mutter bis heute bekannt. Ungewiss ist dagegen, was die Rätin damals zum Mahl auftischte. Ihre Küche können die rund 130.000 Besucher, die heute jährlich ins wiederaufgebaute Goethehaus kommen, zwar fast im Original bewundern, denn der Herd und der Spülstein mit der Wasserpumpe konnten aus den Trümmern unter dem im Zweiten Weltkrieg zerstörten Haus geborgen werden. Aber es ist kein Rezeptbuch der „Frau Aja“ überliefert. Wahrscheinlich hat sie gutbürgerlich gekocht. Als Festessen erwähnt die Frau Rat in ihren Briefen einmal einen Schweinebraten, und der Sohn im fernen Weimar schwärmt vom Schwartemagen, den er zu Hause besonders gern gegessen habe. Sicher ist zudem, dass es bei der Familie Goethe noch keine Grüne Soße gab, auch wenn die geschäftstüchtigen Oberräder Gärtner das werbewirksam behaupten. Aber immerhin erwartete Goethe alljährlich im November ein Paket von der Mutter mit Kronberger Kastanien für die in Frankfurt übliche Füllung der Martinsgans. Zu Weihnachten dann schickte „Frau Aja“ ein Päckchen mit Süßigkeiten für den Enkel August los. Im Jahre 1803 bekam August die Naschereien jedoch nicht, weil Posträuber das Päckchen ausgeplündert hatten. „Daß aber die Schurcken den Confect gefreßen haben hat mich geärgert“, empörte sich die Großmutter in einem Brief.

„Wie in einer Wüste“

In Frankfurt war es für Catharina Elisabeth Goethe inzwischen etwas einsam geworden. Ihre beste Freundin, Susanna Katharina Klettenberg, war bereits 1774 gestorben. Nur drei Jahre später verlor „Frau Aja“ auch ihre inzwischen mit Goethes Jugendfreund Schlosser verheiratete Tochter Cornelia, die mit knapp 27 Jahren im Kindbett starb. 1779 erlitt Johann Caspar Goethe einen ersten Schlaganfall und war seitdem auf die Pflege seiner Frau angewiesen, bis er 1782 seinem Leiden erlag. Im Jahr darauf musste Catharina Elisabeth auch noch ihre Mutter zu Grabe tragen. Der Sohn, ihr einziges noch lebendes Kind, machte in Weimar Karriere und kam nur selten zu Besuch nach Frankfurt. Verzweifelt schrieb die Frau Rat damals in einem ihrer Briefe: „Ich lebe in dieser großen Stadt wie in einer Wüste.“

Theaterleidenschaften

Etwas Zerstreuung fand die deprimierte Catharina Elisabeth Goethe im Theater, das ihre große Passion war. Im 1782 eröffneten Frankfurter Komödienhaus am heutigen Rathenauplatz sah sie 1784 erstmals den Schauspieler Karl Wilhelm Ferdinand Unzelmann (1753-1832) und begeisterte sich sofort für ihn. Künftig waren Unzelmann und seine junge Frau Friederike Flittner oft zu Gast bei der Rätin im Großen Hirschgraben. Unzelmann ließ sich die üppige Bewirtung und Bewunderung seiner Frankfurter Gastgeberin gern gefallen, doch „Frau Aja“ empfand offenbar mehr als gastfreundschaftliche Gefühle für den charmanten, aber etwas leichtsinnigen Mann. Überall verteidigte sie den mit Direktion und Kollegen zerstrittenen Schauspieler, und mehr als einmal sprang sie mit Geld für dessen Schulden ein. Als die Unzelmanns Anfang 1788 infolge von Intrigen fluchtartig nach Berlin abreisten, brach für Catharina Elisabeth Goethe eine Welt zusammen. „Mit mir ist’s aus“, meinte sie gar in einem der sehnsüchtigen Briefe, die sie Unzelmann nachschickte. Lange fühlte sie sich „krank an Leib und Seele“.

Im „niedlichen logiegen“

1795 beschloss die Frau Rat, das große Haus im Hirschgraben aufzugeben. Sie verkaufte alles und zog in eine Wohnung im Haus zum Goldenen Brunnen am Roßmarkt. Aus dem Fenster ihres neuen „niedlichen logiegens“ konnte sie das bunte Treiben auf dem Platz an der Hauptwache beobachten, und selbst wenn es regnete, hatte sie ihre Freude daran: „sogar an Regentagen ist es lustig die vielen hundtert Paraplü vormiren ein so buntes tach“, schrieb sie nach Weimar. Inzwischen genoss „Frau Aja“ stolz den Ruhm ihres Sohnes und nahm die ihr zugedachte Rolle als Dichtermutter gerne an. „Da nun ein großer theil deines Ruhmes und Rufens auf mich zurückfällt, und die Menschen sich einbilden ich hätte was zu dem großen Talendt beygetragen; so kommen sie denn um mich zu beschauen“, berichtete sie ihrem Sohn. Eine, die um des Dichters Willen die Nähe seiner Mutter suchte, war Bettine Brentano. Die junge Frau ging, zuerst im Sommer 1806, später fast täglich, zu Catharina Elisabeth Goethe, unterhielt sich mit ihr über den berühmten Sohn und machte sich dabei eifrig Notizen für eine geplante Goethebiographie. Die alte Rätin fand Freude an Bettines Besuchen. „Liebstes Vermächtnüß meiner Seele“ nannte sie die junge Freundin in ihrem allerletzten Brief vom 28. August 1808, dem 59. Geburtstag des Sohnes.

„Die Frau Rat (...) hat alleweil zu sterben“

Kurz darauf wurde „Frau Aja“, die sich nicht recht wohl befand, zu einer Gesellschaft eingeladen. „Die Frau Rat kann nit kommen“, soll sie haben ausrichten lassen, „sie hat alleweil zu sterben.“ Sie ordnete ihr Begräbnis genau an, bestimmte die Weinsorte und sogar die Größe der Brezeln, die zum Leichenschmaus gereicht werden sollten. Ihren Mägden schärfte sie ein, ja nicht zu wenig Rosinen in den Kuchen backen - das könne sie nicht leiden und würde sie noch im Grabe ärgern. Wenige Stunden später, am 13. September 1808 mittags um zwei Uhr, starb Catharina Elisabeth Goethe. Sie wurde im Familiengrab der Textors auf dem Peterskirchhof beigesetzt. Noch im (heute auf dem Schulhof der Liebfrauenschule gelegenen) Grab darf sie jedoch nicht sie selbst sein. Die Grabplatte, die spätere Generationen ihr zugedachten, trägt nicht ihren Namen, sondern weithin sichtbar nur die Inschrift: „Hier ruhet Goethe’s Mutter.“

[Anm.: Inzwischen, zum Goethejahr 1999, wurde die Grabplatte zusätzlich mit dem Namen und den Lebensdaten von Catharina Elisabeth Goethe versehen.]

Sabine Hock

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