Wer war Frau Aja wirklich?

Ernst Beutlers Buch „Goethe - Briefe aus dem Elternhaus“ gibt Einblick in die familiären Hintergründe des Dichters

Frankfurt rüstet sich, um 1999 das Goethejubiläum groß zu feiern. Da kommt das Buch des Goetheforschers Ernst Beutler gerade recht. Der Briefband ist eine willkommene Auskunftei über die Goethezeit und eine Fundgrube kultur-geschichtlicher Einzelheiten.

Frankfurt am Main (pia) - „Vom Vater hab ich die Statur,/Des Lebens ernstes Führen,/Vom Mütterchen die Frohnatur/Und Lust zu fabulieren“, dichtete einst Johann Wolfgang Goethe über seine Eltern. Daß gerade diese Verse immer wieder zitiert werden, wenn von der Mutter die Rede ist, dürfte ganz im Sinne des großen Sohnes sein. Denn Goethe wollte seine Mutter Catharina Elisabeth bewußt zur reinen „Frohnatur“ stilisieren. Er verbrannte deshalb sogar fast alle ihre Briefe aus der Zeit bis 1792 - es müssen etwa 200 gewesen sein. In Frankfurt wurde das Klischeebild von der allzeit frohgemuten Dichtermutter sogar zu Stein: Zum 100. Todestag von Catharina Elisabeth Goethe 1908 ließ eine Initiative wohlhabender Frankfurter Frauen ein Denkmal anfertigen, das die freundliche „Frau Aja“ mit weißem Spitzenhäubchen zeigt, wie sie dem kleinen Wolfgang, ihrem „Hätschelhans“, Märchen erzählt. Das steingewordene Idealbildnis, das bis heute im Palmengarten zu sehen ist, verrät nichts von der wahren Persönlichkeit der Dargestellten.

Zur Wiedereröffnung des Goethemuseums und im Vorfeld der Feierlichkeiten zum 250. Geburtstag Goethes hat der Insel-Verlag jetzt ein 1960 von Ernst Beutler herausgegebenes Buch neu aufgelegt und erweitert: „Goethe - Briefe aus dem Elternhaus“. Beutler war von 1925 bis 1960 Leiter des Goethehauses und Direktor des Goethe-Museums, ein großer Goetheforscher und -kenner. Auf rund 1000 Seiten Dünndruckpapier kann der Leser sich ein lebhaftes Bild machen, wie „die Goethes“ im Großen Hirschgraben einstens gelebt haben. Das Leben des Vaters und der Schwester Cornelia, ebenso auch das Leben der Mutter Catharina Elisabeth Goethe wird anschaulich - in ihren Briefen und in vier kenntnisreichen Essays Beutlers.

Über 400 Briefe von Catharina Elisabeth Goethe, geb. Textor (1731-1808) sind erhalten, die ersten stammen aus dem Jahr 1774 - einer Zeit, in der es für die damals 43jährige Frau in Frankfurt etwas einsam wurde. Erschüttert berichtete sie am 26. Februar über den Tod ihrer besten Freundin Susanna Katharina Klettenberg. Nur drei Jahre später verlor „Frau Aja“ auch ihre inzwischen mit Goethes Jugendfreund Schlosser verheiratete Tochter Cornelia, die mit knapp 27 Jahren im Kindbett starb. 1779 erlitt ihr 21 Jahre älterer Mann Johann Caspar Goethe einen ersten Schlaganfall und war künftig auf die Pflege seiner Frau angewiesen, bis er 1782 seinem Leiden erlag. Im Jahr darauf mußte Catharina Elisabeth auch noch ihre Mutter zu Grabe tragen. Der Sohn, ihr einziges noch lebendes Kind, machte in Weimar Karriere und kam nur selten zu Besuch nach Frankfurt. Verzweifelt schrieb die Frau Rat damals in einem ihrer Briefe: „Ich lebe in dieser großen Stadt wie in einer Wüste.“

Etwas Zerstreuung fand die deprimierte Catharina Elisabeth Goethe im Theater, das ihre große Passion war. Im 1782 eröffneten Frankfurter Komödienhaus am heutigen Rathenauplatz sah sie 1784 erstmals den Schauspieler Karl Wilhelm Ferdinand Unzelmann (1753-1832) und begeisterte sich sofort für ihn. Künftig waren Unzelmann und seine junge Frau Friederike Flittner häufig zu Gast bei „Frau Aja“ im Großen Hirschgraben. Unzelmann ließ sich die üppige Bewirtung und Bewunderung seiner Frankfurter Gastgeberin gern gefallen, aber „Frau Aja“ empfand offenbar mehr als gastfreundschaftliche Gefühle für den charmanten, aber etwas leichtsinnigen Mann. Überall verteidigte sie den mit Direktion und Kollegen zerstrittenen Schauspieler, und mehr als einmal sprang sie sogar mit Geld für dessen Schulden ein. Als die Unzelmanns infolge von Intrigen Anfang 1788 fluchtartig nach Berlin abreisten, brach für Catharina Elisabeth Goethe eine Welt zusammen. „Mit mir ist's aus“, meinte sie gar in einem der sehnsüchtigen Briefe, die sie Unzelmann nachschickte. Lange fühlte sie sich „krank an Leib und Seele“.

1795 beschloß die Frau Rat, das große Haus im Hirschgraben aufzugeben. Sie verkaufte alles und zog in eine Wohnung im Haus zum Goldenen Brunnen am Roßmarkt. Aus dem Fenster ihres neuen „niedlichen logiegens“ konnte sie das bunte Treiben auf dem Platz an der Hauptwache beobachten, und selbst wenn es regnete, hatte sie ihre Freude daran: „sogar an Regentagen ist es lustig die vielen hundtert Paraplü vormiren ein so buntes tach“, schrieb sie nach Weimar.

Inzwischen genoß „Frau Aja“ stolz den Ruhm ihres Sohnes und nahm die ihr zugedachte Rolle als Dichtermutter gerne an - der Name übrigens ein liebevoller Neckname des Sohnes und seiner Freunde aus der Sturm- und Drangzeit. „Aja“, so heißt in dem damals noch beliebten Volksbuch die Mutter der vier Haimonskinder, die Schwester Karls des Großen, die ihre Söhne mutig vor der Rache des Vaters bewahrte. „Da nun ein großer theil deines Ruhmes und Rufens auf mich zurückfällt, und die Menschen sich einbilden ich hätte was zu dem großen Talendt beygetragen; so kommen sie denn um mich zu beschauen“, berichtete sie ihrem Sohn. Eine, die um des Dichters Willen die Nähe seiner Mutter suchte, war Bettine Brentano. Die junge Frau ging, zuerst im Sommer 1806, fast täglich zu „Frau Aja“, unterhielt sich mit ihr über den berühmten Sohn und machte sich dabei eifrig Notizen für eine geplante Goethebiographie. Die alte Rätin fand Freude an Bettines Besuchen. „Liebstes Vermächtnüß meiner Seele“ nannte sie die junge Freundin in ihrem allerletzten Brief vom 28. August 1808, dem 59. Geburtstag des Sohnes.

Kurz darauf wurde „Frau Aja“, die sich nicht recht wohl befand, zu einer Gesellschaft eingeladen. „Die Frau Rat kann nit kommen“, soll sie haben ausrichten lassen, „sie hat alleweil zu sterben.“ Sie ordnete ihr Begräbnis genau an, bestimmte die Weinsorte und sogar die Größe der Brezeln, die zum Leichenschmaus gereicht werden sollten. Ihren Mägden schärfte sie ein, ja nicht zu wenig Rosinen in den Kuchen backen - das könne sie nicht leiden und würde sie noch im Grabe ärgern. Wenige Stunden später, am 13. September 1808 mittags um zwei Uhr, starb Catharina Elisabeth Goethe. Sie wurde im Familiengrab der Textors auf dem Peterskirchhof beigesetzt. Noch im (heute auf dem Schulhof der Liebfrauenschule gelegenen) Grab darf sie jedoch nicht sie selbst sein. Die Grabplatte, die spätere Generationen ihr zugedachten, trägt nicht ihren Namen, sondern weithin sichtbar nur die Inschrift: „Hier ruhet Goethe's Mutter.“

Sabine Hock

Wochendienst, hg. v. Presse- und Informationsamt der Stadt Frankfurt am Main, Nr. 29 vom 29.07.1997

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