Punsch, Prügel und eine Mordsküsserei

Alte Frankfurter Sylvesterbräuche

Auch durch drakonische Strafen ließen sich die Frankfurter nicht vom Sylvesterfeuerwerk abbringen. Am Altjahrsabend hatte die Stadt sogar vier Bürgermeister. Mit Würfelspielen und dem Einschlagen von Zylindern amüsierte man sich am letzten Tag des Jahres.

Frankfurt am Main (pia) Das Sylvesterfeuerwerk sei doch „ein sehr unnützes und geschmackloses Vergnügen, womit sich kein Mann von gesetzter Denkungsart abgiebt“, appellierte der Jüngere Bürgermeister 1806 an die Vernunft der Frankfurter. Doch trotz drastischster Strafen war der Brauch, in der Neujahrsnacht die bösen Geister durch Feuer und Krach vertreiben zu wollen, in der Stadt nicht auszurotten. Im Jahre 1713 war sogar damit gedroht worden, dass widerrechtliche Feuerwerker vom städtischen Militär sofort festgenommen und zur Verabreichung einer Tracht Prügel ins Hospital oder Armenhaus abgeführt würden. Aber auch dieser Aufruf verhallte ungehört. Feuerwehr und Rettungsdienste kommen bis heute in der Sylvesternacht nicht zur Ruhe.

Der letzte Tag des Jahres war in Frankfurt ein hochpolitisches Datum. Denn immer am 31. Dezember wählte der Rat aus seinem Kreis die beiden neuen Stadtoberhäupter, den Älteren und den Jüngeren Bürgermeister, die gemeinsam für ein Jahr amtierten. Am letzten Tag des Jahres hatte Frankfurt also gleich vier Bürgermeister auf einmal. Bis zum Ende der freistädtischen Zeit 1866 war bei der Bürgermeisterwahl das Glück entscheidend, denn die neuen Würdenträger wurden traditionell durch „Kugelung“ bestimmt. Dabei musste jeder der drei Kandidaten eine Kugel ziehen, und wer die goldene vor zwei silbernen erwischte, hatte das Amt gewonnen.

Nach vollzogener Wahl, so gegen acht Uhr abends am Sylvestertag, rückte das gesamte städtische Militär mit seinem Musikkorps zum großen Zapfenstreich aus und paradierte über die Fahrgasse in die Stadt, um den vier Bürgermeistern ein Ständchen zu bringen, den alten zum Abschied, den neuen zum Willkomm. Den prunkvollen Militäraufmarsch wollte kein Frankfurter verpassen. Alle drängten sich in den engen Gassen der Altstadt, um das Schauspiel zu sehen. Viele wollten auch dabei sein, wenn in dieser Nacht die frischgestrichenen Schilderhäuschen zu den Wohnungen der neuen Bürgermeister transportiert und unter Musik und Gesang dort aufgestellt wurden, damit die Stadtoberhäupter gleich nach dem Amtsantritt ihr Recht auf einen Doppelwachposten wahrnehmen könnten.

Bereits am Nachmittag hatte in den Bäckerläden der Stadt das Neujahrswürfeln begonnen. Gespielt wurde um „Stutzweck“, speziell geformte Gebildbrote aus Hefeteig, die es bis heute zu Sylvester in Frankfurter Bäckereien zu kaufen gibt. Bis kurz vor 12 Uhr in der Neujahrsnacht rollten die Würfel über die Ladentheken der Bäckereien. Mancher zog mit einem Arm voller erbeuteter Stutzweck weiter in die nächste Apfelweinwirtschaft, um dort dem Neuen Jahr entgegenzuzechen. In allen Gaststätten herrschte Hochbetrieb, zumal der Punsch, das traditionelle Frankfurter Sylvestergetränk, in der Stunde vor Mitternacht umsonst ausgeschenkt wurde.

Die biedereren Bürgersleute indes waren nach der Militärparade brav nach Hause gegangen, um im trauten Familienkreis den Jahreswechsel zu erwarten. Auch in der bürgerlichen „gut Stubb“ kam jetzt der - zumeist nach einem Geheimrezept der Hausfrau gebraute - Punsch auf den Tisch, und man vertrieb sich die Zeit mit Gesellschaftsspielen. Zu vorgerückter Stunde, wenn der Punsch seine Wirkung tat, wagte man sich schließlich an Pfänderspiele heran, was - so erinnert sich der Frankfurter Lokalpoet Friedrich Stoltze - meistens „e Mordskisserei“ gegeben habe.

Wenn die Glocken vom Domturm zwölfe schlugen und die Postillione von Thurn und Taxis das neue Jahr anbliesen, hielt es selbst den bravsten Bürger nicht mehr daheim. Alle strömten zur großen Gratulationscour auf die Zeil. Jeder wünschte hier jedem viel Glück zum Neuen Jahr. Für die Herren war es allerdings von je her keine ganz ungefährliche Promenade, denn ihre Zylinder waren in dieser Nacht „vogelfrei“. Allen Trägern steifer Hüte wurde von übermütigen Burschen „der Kroppe eingetriwwe“ (zu hochdeutsch: der Hut eingeschlagen), und die Opfer durften sich noch nicht einmal darob beschweren. Frankfurter Metzger aber entwickelten den Ehrgeiz, heilen Huts davonzukommen. In furchterregender Kolonne, gesichert durch grobschlächtige Gesellen als Vortrupp und Flankenschutz, marschierten sie über die Zeil und provozierten dadurch nur andere radaulustige Kerle erst recht zum Angriff. Im Laufe der Zeit artete die einst so harmlose Gratulationscour schließlich zu einer solchen Randale aus, dass sich die Polizei zu Beginn unseres Jahrhunderts alljährlich in der Neujahrsnacht zu einer gewaltsamen Räumung der Zeil veranlasst sah.

Am Neujahrsmorgen waren die Frankfurter einst schon wieder früh auf den Beinen. Die Kinder überreichten ihren Eltern und Verwandten selbstgedichtete und gemalte Glückwünsche. Auch der achtjährige Johann Wolfgang Goethe schrieb 1758 einen Neujahrsvers an die „erhabene Großmama“ und damit sein erstes Gedicht überhaupt. Nach dem Gottesdienst ging die ganze Familie zu der feierlichen Parade, mit der die Fahnen der Bürgerwehr von der Wohnung des alten Bürgermeisters zu der des neuen überführt wurden. Auf dem Heimweg machten sich die Kinder einen Spaß daraus, jedermann „das Neujahr abzugewinnen“: Wer einem Bekannten begegnete und zuerst „Prost Neujahr!“ rief, hatte gesiegt.

Im Laufe des ersten Januartages kamen dann Bäckerjunge, Milchfrau, Zeitungsausträger, Postbote, Müllkutscher und Laternenanzünder ins Haus, um ein gutes Neues Jahr zu wünschen und so ein Trinkgeld zu erheischen. Während heute nur noch die Müllabfuhr um ihr alljährliches Trinkgeld an der Haustür klingelt, riss einst die Kette der Neujahrsgratulanten aus den dienstleistenden Gewerben nicht ab. Als einmal ein geplagter Hausherr von einem unbekannten Glückwünscher wissen wollte, wofür er denn nun ein Silberstück erbettele, antwortete dieser erstaunt: „Was, Sie kenne mich net? Ei, ich bin doch der Mann von da driwwe, wo sich alle Woch Ihne Ihrn Schubkarrn ausleihe dhut!“

Sabine Hock

Wochendienst, hg. v. Presse- und Informationsamt der Stadt Frankfurt am Main, Nr. 49 vom 17.12.1996

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