Wenn der Philosoph mit der Löwenmähne über den Röderberg stürmt

Das „Schopenhauer-Archiv“ Frankfurt wird 75 Jahre alt

Fast 30 Jahre bis zu seinem Tod lebte Arthur Schopenhauer in Frankfurt am Main. Das Archiv, am 21. Oktober 1921 gegründet, bewahrt neben Briefen und Manuskripten auch Möbel und private Erinnerungsstücke auf. Aus vielen Teilen der Welt kommen Schopenhauer-Forscher nach Frankfurt.

Frankfurt am Main (pia) Der Philosoph Arthur Schopenhauer kam nicht zufällig nach Frankfurt. Als er Ende August 1831 vor einer drohenden Cholera-Epidemie aus Berlin floh, ging der damals 43jährige Gelehrte bei der Wahl eines neuen Wohnorts ganz besonnen und systematisch vor. Zunächst zog er nach Frankfurt, weil es als „cholerafest“ galt, und wohnte hier für ein knappes Jahr auf Probe. Danach testete er ein Jahr lang, wie es sich in Mannheim leben ließe. In einer Aufstellung, die er in englischer Sprache auf den Deckel eines Rechnungsbuchs notierte, wog er dann die Vor- und Nachteile beider Städte sorgsam gegeneinander ab. Zu Frankfurts Vorzügen zählte er darin etwa das „gesunde Klima“, ein „besseres Lesezimmer“, das „Naturhistorische Museum“, „mehr Engländer“, „bessere Kaffeehäuser“, „kein schlechtes Wasser“, „die Senckenbergische Bibliothek“ und „keine Überschwemmungen“.

All jenen Verlockungen der Stadt, die er später einmal als „den eigentlichen Mittelpunkt von Europa“ titulierte, konnte Schopenhauer schließlich nicht widerstehen und übersiedelte im Juli 1833 nach Frankfurt. „Als Einsiedler, ganz und gar nur mit meinen Studien und Arbeiten beschäftigt,“ so schrieb er, wollte er aber hier leben. Getreu dieser Absicht schuf er in den folgenden Frankfurter Jahren den ergänzenden zweiten Band zu seinem Hauptwerk „Die Welt als Wille und Vorstellung“ (1844) und sein populär gewordenes letztes Werk „Parerga und Paralipomena“ (1851). Der Philosoph erlebte den beginnenden Aufstieg zum Weltruhm und scharte allmählich einen Kreis von „Evangelisten“ und „Aposteln“, wie er seine Anhänger nannte, um sich. Am 21. September 1860 starb Schopenhauer in seiner Frankfurter Wohnung an der Schönen Aussicht 16. Sein Erbe pflegt die Stadt Frankfurt bis heute im „Schopenhauer-Archiv“, das vor genau 75 Jahren von der Frankfurter Stadtbibliothek und der „Schopenhauer-Gesellschaft“ gegründet wurde.

Den Grundstock für das Archiv legte allerdings schon der Philosoph selbst mit sieben Daguerreotypien, die der Frankfurter Mechanikus Johann Wilhelm Albert1 von ihm angefertigt hatte. Diese frühen fotografischen Aufnahmen vermachte Schopenhauer testamentarisch der von ihm hochgeschätzten Stadtbibliothek. Die Bibliothek, die sich seitdem dem Ruf Frankfurts als „Schopenhauer-Stadt“ verpflichtet fühlte, begann, die Ausgaben von Schopenhauers Werken systematisch zu sammeln. Als besonderen Schatz konnte sie 1891 das Manuskript des in Frankfurt entstandenen zweiten Bands von Schopenhauers „Die Welt als Wille und Vorstellung“ ankaufen.

Es war eine glückliche Fügung, daß nach dem Ersten Weltkrieg die 1911 in Kiel gegründete „Schopenhauer-Gesellschaft“ mit ihrem Archiv nach Frankfurt zog. So beschlossen die Gesellschaft und die Stadtbibliothek schon bald, ihre Archive zu vereinigen. In der alten Stadtbibliothek an der Obermainanlage von der heute nur noch der Portikus übriggeblieben ist, wurde am 21. Oktober 1921 das Frankfurter „Schopenhauer- Archiv“ eröffnet. Der Traum vom repräsentativen „Schopenhauer-Museum“ im Sterbehaus des Philosophen erfüllte sich jedoch nicht. In der Bombennacht vom 22. März 1944 wurde das Haus an der Schönen Aussicht 16 völlig zerstört. Etwa die Hälfte der inzwischen dort lagernden Archivbestände und Museumsstücke, darunter Schopenhauers Bett und seine Nachtmütze2, sind damals verbrannt.

Wer heute in die Welt des Philosophen eintreten will, muß den früheren Dienstboteneingang hinter dem Literaturhaus in der Bockenheimer Landstraße 102 benutzen. Eine schmale Holzstiege führt hinauf bis fast unters Dach, in das Archivzentrum der jetzigen Stadt- und Universitätsbibliothek. Mit bibliothekarischem Spürsinn berät hier Jochen Stollberg, der Leiter des Archivzentrums, regelmäßig renommierte Wissenschaftler aus dem In- und Ausland, vor allem aus Italien und Japan. Aber auch Nicht-Wissenschaftler sind eingeladen. Mittwochs von 10.30 bis 17 Uhr kann jeder Interessierte das „Schopenhauer-Archiv“ besichtigen.

Insgesamt rund 1.450 Briefe, mehr als 90 Manuskripte und Dokumente sowie einige hundert Bilder von Schopenhauer, seiner Mutter Johanna, seiner Schwester Adele und seinen Freunden sowie die Akten, der „Schopenhauer-Gesellschaft“ und der Nachlaß von deren verdienstvollem langjährigen Präsidenten Arthur Hübscher finden sich in dem Archiv. In Glasschränken, von vier Schopenhauerbüsten grimmig bewacht, stehen rund 600 Bände aus Schopenhauers Privatbibliothek. Die Bücher sind mit vielen scharfen, oft auch wütenden Randbemerkungen versehen. Wenn Schopenhauer einen Autor besonders gehaßt hat, wie etwa Fichte oder Schelling, dann hat er dessen Bücher vollgeschrieben. „Ah!!“ kommentiert Schopenhauer da ironisch die tiefschürfende Erkenntnis eines Autors, und dort malt er ein „Ecce!“ an den Rand. Einmal kritzelt er gar wütend „Wind über Wind!“ über zwei Textseiten.

In einem kleinen Durchgangszimmerchen haben die wenigen erhaltenen Möbelstücke aus Schopenhauers Wohnung Platz. Von den Wänden mit der originalgetreu nachgedruckten, schwarz-weiß­grau gemusterten Tapete blickt, vervielfacht in Öl, der alternde Philosoph selbst mit dem bekannten weißen „Löwenhaupt“ und den klaren, blauen Augen. Da steht auch das Sofa, auf dem Schopenhauer einst das „solitäre Geschäft“ des Sterbens (so seine eigenen Worte) erledigte. Als wäre es sein Arbeitstisch, so liegt in einer Vitrine, vor seinem Schreibzeug und seinen beiden letzten Schreibfedern, Schopenhauers Brille. Dazu gehört ein Etui, das ihm wahrscheinlich seine Berliner Geliebte Caroline Medon bestickt hat.

Da sind auch noch die drei Flöten, auf denen Schopenhauer täglich musizierte, und der Serviettenring mit seinem eigenhändig eingeschnitzten Monogramm, den er beim Mittagessen an der Table d´hôte des Englischen Hofs am Roßmarkt benutzte. Den Spazierstock mit dem elfenbeinernen Knauf nahm Schopenhauer mit, wenn er mit seinem Pudel, den er philosophisch „Atma“ („Weltseele“), kosend aber einfach „Butz“ nannte, eiligen Schrittes durch die Stadt marschierte und dabei wild gestikulierend Selbstgespräche führte. So hat jedenfalls der Frankfurter Lokaldichter Friedrich Stoltze das Bild des über den Röderberg wandernden Philosophen überliefert.

Sabine Hock

Wochendienst, hg. v. Presse- und Informationsamt der Stadt Frankfurt am Main, Nr. 37 vom 24.09.1996.

1 Nach neueren Forschungen wurden diese Daguerreotypien nicht von Johann Valentin Albert (1774-1856), sondern von dessen Sohn Johann Wilhelm Albert (1807-1887) aufgenommen. Vgl. dazu den Artikel über Johann Wilhelm Albert von Eberhard Mayer-Wegelin im Frankfurter Personenlexikon.

2 Hier irrt die Verfasserin. Wenigstens Schopenhauers Nachtmütze blieb erhalten. In der Frankfurter Ausstellung des Instituts für Stadtgeschichte zum 150. Todestag des Philosophen 2010 konnte sie (natürlich die Mütze, nicht die Verfasserin!) besichtigt werden.

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