„Ein schrecklicher Friedhof, Zeichen göttlicher Gerechtigkeit“

Frankfurt, 3. April 1945: Erstes Wiedersehen mit der zerstörten Heimatstadt / Ein gewaltiges Meer von Schutt und Steinen

Als amerikanischer Offizier kam Walter Rothschild vier Tage nach dem Einmarsch der Amerikaner in die Stadt zurück, in der er geboren und aufgewachsen war. Anfang 1936 war er in die Vereinigten Staaten emigriert. Verwandten und Freunden schilderte er in einem Brief, in dessen Besitz das Stadtarchiv kürzlich gelangte, seine Eindrücke, als er mit dem Jeep durch Frankfurt fuhr. Sabine Hock hat den Brief, den wir in Auszügen veröffentlichen, ediert und übersetzt.

Ich fuhr den Sachsenhäuser Berg hinab. Die Straße war rechts und links sehr stark zerstört, die Gebäude der Brauerei Binding auf beiden Straßenseiten nichts als leere, ausgebrannte Gerippe, nicht ein Haus stehengeblieben in der Straße, so weit wir sie hinunterfuhren. Am Fuße des Berges ein großer Platz, abgesperrt, weil ein Loch in seiner Mitte klaffte. Wir machten einen kleinen Umweg, schwenkten zurück auf die Hauptstraße und erreichten den Main. Ein absolut erschütternder Anblick! Da war Frankfurt - aber war es das wirklich?

Der Domturm war noch da, doch die zu ihm gehörende Kirche war nur ein Skelett, gänzlich unbedeckt, so daß der Domturm ganz alleine dastand. Die gewohnte Ansicht des Mainufers wirkte verändert, sie war vertraut und dann doch wieder nicht. Sämtliche Häuser, die noch am Mainufer stehen, sind überhaupt keine Häuser mehr, sondern nur noch leere Gerippe. Ich schaute nach links. Da war der Eiserne Steg, der eine Brückenbogen im Fluß liegend, der andere in einem Winkel von 75 Grad in die Luft ragend. Da war die „Neue Alte Brücke“. Man kann noch die Stümpfe der Brückenpfeiler auf beiden Seiten sehen, wie amputierte Gliedmaßen, aber der eigentliche Körper ist verschwunden, untergegangen im Wasser. Die Eisenbahnbrücke weiter flußaufwärts war intakt, nur ein Brückenbogen fehlte.

Wir fuhren auf der Sachsenhäuser Seite am Fluß entlang. Dort war einmal das Städel, nun ist es verschwunden. Endlich kamen wir in der Nähe des Schauspielhauses hinüber. Wenn ich nur Worte hätte, um es Euch zu beschreiben! Wir kamen zu dem Platz, wo die Kronprinzenstraße (die heutige Münchener Straße, Red.) die Neue Mainzer Straße kreuzt. Es ist nun ein riesiger Platz, von dem aus man in die tiefsten Gedärme der Stadt sehen kann. Das Schauspielhaus ist verschwunden; wo es einmal war, ist ein ungeheuer großes Loch im Boden. Nur von einem Teil des Bühnenhauses stehen noch ein paar Mauern. All die anderen Häuser um den Platz sind in genauso schlechten Zustand, nicht ein einziges besteht aus mehr als bestenfalls ein paar Mauern.

Die Friedensstraße hinauf, vorbei am Frankfurter Hof. Aber das Hotel ist untergegangen, nur eine Mauer zur Seitenstraße hin steht noch.

Wir bogen langsam in die Kaiserstraße in Richtung Roßmarkt ein. Das war einmal ein ziemlich langer Häuserblock, aber nun scheint er schrecklich kurz zu sein, weil zwischen dem Frankfurter Hof und dem Roßmarkt alle Häuser verschwunden sind. Zu beiden Seiten der Straße ist nur mit Schutt gefüllter Raum. Mancherorts kam man noch Aushängeschilder der Läden sehen, die dort waren, mit einem handgeschriebenen Schild „Verzogen nach ...“, die meisten in einen Randbezirk der Stadt.

Hinauf zur Hauptwache. Der Platz ist etwa doppelt so groß wie früher. Die Hauptwache, das Gebäude an sich, ist verschwunden, nur eine Mauer steht noch, davor drei Straßenbahnen der „Linie 3, Bockenheim, Zoologischer Garten“, ein bißchen weiter weg liegen zwei Straßenbahnwagen der Linie 10 auf der Seite.

Die Goethestraße hat noch die Merkmale einer Straße, aber nur äußerlich. Man kann nicht auf den Bürgersteigen gehen, sie sind abgesperrt oder voller Steinhaufen, nicht ein einziges Gebäude ist bewohnbar. Der Opernplatz wirkt äußerlich unverändert. Das Opernhaus ist noch da, es hat nur kein Dach mehr und ist ausgebrannt.

Wir wandten uns zur LeerbachstraBe. Welch ein Anblick! Vom Opernplatz aus kann man die ganze LeerbachstraBe hinaufsehen bis zur Hansaallee, es steht gar nichts mehr. Demzufolge wirkt die Straße furchtbar kurz, und wir erreichten die Hausnummer 53, bevor ich ihrer gewahr wurde. Unser Haus, Nummer 53, muß einen Volltreffer abbekommen haben, denn es ist jetzt nur noch ein riesiger Häufen von verbogenen Tragebalken, Trümmern und Schutt. Das eiserne Eingangstor ragt an der Straßenseite heraus, und der Briefkasten liegt sonderbarerweise oben auf dem Trümmerhaufen. Nur eine Mauer steht noch, die Hinterfront mit dem Blick über die Gärten auf den Reuterweg.

Das „Haus“ sieht aus, als ob jemand ein Messer genommen und es einfach zerschnitten hätte, dann alles auf einen großen Haufen geschmissen, aber die hintere Mauer stehengelassen hätte. In der Rückwand sind noch die Fensteröffnungen geblieben. Ich zählte die Etagen ab. Da ist der zweite Stock, vier Fenster, zwei von Euren Schlafzimmern, eines von meinem Zimmer und dann das Badezimmer, man kann es noch sehen, aber das ist alles, was vom Haus übrig ist. Hinauf zum Grüneburgweg oder vielmehr zu dem, was er früher einmal war. Zwischen Leerbachstraße und Eschersheimer Landstraße gibt es keine Häuser mehr, nur noch freies Feld.

Wir kamen zur Synagoge (Freiher-vom-Stein-Straße). Der sonderbarste Anblick überhaupt: Sie ist unversehrt, die Kuppel und alles, auch das Schulgebäude, die Eisentore geschlossen, als ob sie bereit sei, sich jederzeit zum Gottesdienst zu öffnen. Die Häuser gegenüber alle zerstört, leer, ausgebrannt, aber unsere Synagoge unberührt. Wo aber sonst könnte sich Gottes unglaubliche Gerechtigkeit besser offenbart haben als hier?

Zum Bahnhofsplatz. Der Bahnhof scheint in ziemlich gutem Zustand zu sein, seltsamerweise, das Excelsior Hotel und das Carlton sind unversehrt. Das Schumanntheater hatte einen Volltreffer, und es ist fast nichts mehr übrig. Wir fuhren zur Altstadt. Das ist nun doch der befremdendste Anblick. Die Altstadt ist ganz verschwunden, nicht eine Spur mehr davon. Vom Schauspielhaus bis zur Grünen Straße erstreckt sich nur noch ein gewaltiges Meer aus Schutt, Steinen und Staub, man kann fast von der Friedensstraße bis zum Ostbahnhof sehen. Die Paulskirche ist untergegangen. Wir bogen dahin ein, wo einmal der Römerberg war. Die alte Kirche dort steht noch, aber der Römer ist zerstört außer dem Haupteingang am früheren Römerberg. Die schönen Türen sind ungefähr alles, was noch übrig ist.

Es ist schwer, die Gefühle zu beschreiben, die mich durchliefen, es ist gerade so, als ob man nach vielen Jahren nach Hause käme, um nach den Leuten zu suchen, die man einst gekannt hat, und alles, was man findet, ist ihr Grab. Das ist Frankfurt heute: ein Friedhof, ein riesiger schrecklicher Friedhof, ein Zeichen der göttlichen Gerechtigkeit, der Vergeltung, ein Zeichen der wunderbaren Wege Gottes, uns von der Sintflut wegzufüren, bevor sie uns verschlingen konnte. Wo sonst und wo mehr würden wir Grund haben, auf die Knie zu sinken mit Tränen in den Augen?

Ich war nahe daran, und ich danke Ihm für alles, was Er für uns getan hat, daß Er uns von all dem hinweggeführt hat in dieses Land der Freiheit, in die Vereinigten Staaten von Amerika. Und wohin sonst könnte ich, in dieser Stadt geboren, nach so vielen Jahren zurückkehren, als ein Offizier der siegreichen Armee? Ich fühlte mich, als ob ich heute der Hüter der vielen tausend Juden von Frankfurt oder von Deutschland gewesen wäre, die mit mir im Geiste zusammenkamen, um zu sehen, was die ewige Gerechtigkeit vollbringt.

Ich warf eine Zigarettenkippe weg und sah, wie ein Mann sie aufhob. 1933 bis 1945 - die Zeiten ändern sich.

Ich hörte den vertrauten Dialekt, und ich sah die vertrauten Ansichten. Und dann hatte ich den furchtbaren Drang, von all dem zu fliehen, meinen Jeep zu nehmen und wegzurasen und die schrecklichen Erinnerung auszuwischen. Niemand außer Euch wird fähig sein, diese Empfindungen mit mir zu fühlen. Ein Alptraum ist wahr geworden.

Sabine Hock

In: FAZ vom 03.04.1995, S. 41.

Seitenanfang