Der letzte große Frankfurter Mime seines Fachs

Vor 25 Jahren starb der Volksschauspieler Carl Luley / Die „Stimme“ seiner Stadt

Die Leidenschaft des jungen Carl Luley war der Fußball. Für „seinen“ Verein, den „Fußballclub 1902“ im Gallusviertel, tat der stämmige Torwart alles, sogar Theaterspielen. Zum Stiftungsfest im Jahre 1904 übernahm er eine Hauptrolle in dem Stück „Die schwarze Afra“. Der Regisseur, ein Chorsänger der Frankfurter Oper, ermunterte seinen Helden, doch wirklich zum Theater zu gehen. So begann die Laufbahn des Schauspielers Carl Luley, der vor 25 Jahren, am 10. März 1966, in seiner Vaterstadt Frankfurt starb.

Carl Luley wurde am 21. September 1887 in der Schleusenstraße am Westhafen geboren. Die Mutter unterstützte seine künstlerischen Ambitionen. Als Blumenbinderin war sie von der Baronin Rothschild eigens dafür engagiert worden, nach den Vorstellungen im gerade eingeweihten Opernhaus aus der hochherrschaftlichen Loge den Solisten Blumen auf die Bühne zu werfen. Fasziniert vom Glanz der Theaterwelt, soll sich die junge Frau nichts sehnlicher gewünscht haben, als ihren Sohn einmal als gefeierten Helden dort unten auf der Bühne stehen zu sehen. Doch zunächst mußte Carl Schauspielunterricht bei dem Charakterdarsteller Max Bayrhammer nehmen.

1909 debütierte Luley in Aschaffenburg, seit 1912 war er dann in Bielefeld engagiert. Der Vater, ein Eisenbahner, der den Sohn lieber in einer soliden Stellung gesehen hätte, hatte sich inzwischen mit dessen Berufswahl abgefunden. Aber er wollte „seinen Bub“ nun wenigstens als schönen Liebhaber auf der Bühne bewundern. Den Gefallen konnte ihm Carl nicht tun. Schon in jungen Jahren spielte er dagegen etwa den Attinghausen im „Tell“, den Klosterbruder im „Nahtan“ oder die Stimme des Herrn im „Faust“.

Nach dem Kriegsdienst in seine Heimatstadt zurückgekehrt, war er inzwischen an den Städtischen Bühnen engagiert, denen er über den Wandel der Zeiten und den Wechsel der Intendanten hinweg von 1919 bis zu seinem Tode treu blieb. Seinem Vertrag gemäß war er „für Episoden und kleine Rollen“ verpflichtet. Er war Zeit seines Lebens ein Chargenspieler, bis zu seiner letzten Rolle als Pfarrer in der „Dreigroschenoper“. Doch sein Auftritt konnte noch so klein sein, Luley machte ihn niemals zu einem unbedeutenden. Sein eigentliches Metier aber fand Carl Luley, als er in den dreißiger Jahren in Frankfurter Lokalstücken mitzuwirken begann. Darin spielte er mit Bravour die Hauptrollen, den Muffel in Adolf Stoltzes „Alt-Frankfurt“, den alten Bürgerkapitän und den Hampelmann in den Stücken von Carl Malß. Zum echten Volksschauspieler avancierte er jedoch erst, als er in diesen Rollen nach 1945 wieder auftrat. Auf den Behelfsbühnen ließ er mit seinen Bühnenpartnerinnen Anny Hannewald und Else Knott für sein Publikum das wiedererstehen, was draußen in Trümmern lag. Er gab ihm in der Scheinwelt das alte Frankfurt wieder, das es in der Realität doch unwiederbringlich verloren hatte. Das konnte er nur, weil er selbst wie auch sein Publikum noch ein Teil davon war. Es konnte keinen Nachfolger für Carl Luley geben, da es Alt-Frankfurt nicht mehr gab. Mit seinem Tod würde es ganz dahin sein. Das spürte das Frankfurter Publikum. Als Luley 1953 zum Ehrenmitglied der Städtischen Bühnen ernannt wurde, rief ihm daher Richard Kirn wehmütig zu: „Sie sind unersetzlich. Wir kriegen ja nie mehr einen Muffel, nie mehr einen Bürgerkapitän wie den Carl Luley, so frankforderisch bis in die Knochen, ein ahler Krätscher, wie es die Stücke vorschreiben, aber einer mit goldenem Herzen.“

Das Frankfurter Publikum hing an „seinem“ Carl Luley. In seiner Liebe traute es ihm alle Künste zu. Als er auf der Freilichtbühe des Karmeliterklosters als Vater Knie in Zuckmayers „Katharina Knie“ brillierte, aber bei einem Drahtseilakt von einem „echten“ Artisten gedoubelt wurde, hörte es Luleys Frau Gretel im Zuschauerraum raunen: „Der geht werklich iwwers Seil! Deß dem sei Fraa des zuläßt!“

Ein Journalist glaubte sogar, daß man eines Tages die Tonbänder mit Luleys Stimme beim Hessischen Rundfunk herauskramen müsse, um zu erfahren, wie die Frankfurter einst gesprochen haben. Der Sprachforscher der Zukunft könnte Luley in zahlreichen Hörspielrollen studieren, vor allem aber als Mitwirkenden in der beliebten Serie „Die Familie Hesselbach“ von Wolf Schmidt. Als Hesselbach-Onkel könnte er ihn sogar auf dem Bildschirm sehen. Auch in Luleys Lieblingsrolle des Drehermeisters Dammbach im „Datterich“ wurde sein Spiel für das Fernsehen festgehalten, in einer exzellenten Inszenierung der Städtischen Bühnen von 1963 mit Joseph Offenbach in der Titelrolle.

Diese Konserven lassen heute ahnen, was den Charme des Volksschauspielers Carl Luley ausmachte. Mit ihm starb der letzte große Frankfurter Mime seines Fachs. Carl Luley selbst aber glaubte an die Unsterblichkeit des Volkstheaters, unabhängig von der Vergänglichkeit seiner Protagonisten. Sein Lieblingsplan war die Gründung eines Theaters, das sich der Tradition des Volksstücks in Frankfurter Mundart verpflichten sollte. Er hat Liesel Christ mit dieser Idee infiziert. Sie bezeichnet ihn heute als den eigentlichen Initiator ihres nun seit 20 Jahren bestehenden Volkstheaters im Großen Hirschgraben, eines Theaters im Sinne von Carl Luley, das jedoch in einer ganz anderen Zeit entstanden sei und daher eine ganz andere Art der Existenzberechtigung als das Volkstheater zu seiner Zeit errungen habe.

Sabine Hock

FAZ, 09.03.1991, S. 50

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