Die geteilte Walküre

Cover Geteilte Walküre

Karl Ettlinger

Die geteilte Walküre

Gedichtcher un Geschichtcher von eme alde Frankforder

Herausgegeben von Sabine Hock

Nidderau: Naumann 1993
(Ettlinger · Lesebuch 1)
 

Der „alde Frankforder“ mit der „Gewitterschnut“

„Er war nie mit der Welt zefridde
Unn hat se doch so haaß gelibbt.“

Das erste Gedicht „von eme alde Frankforder“ erschien zu Beginn des Jahres 1903 in der Münchner Wochenschrift „Jugend“ und hieß, angeregt durch die Eiseskälte der herrschenden Jahreszeit, „Zor Winderszeit“. In der „Jugend“, der überregional verbreiteten „Münchner illustrierten Wochenschrift für Kunst und Leben“, waren seitdem regelmäßig Beiträge „von eme alde Frankforder“ zu lesen. Diese Frankfurter Mundartgedichte waren bei den Lesern aus ganz Deutschland beliebt. Der „alde Frankforder“ der Münchner „Jugend“ begleitete sein Publikum durch den Wechsel der Zeiten hindurch, vom Kaiserreich über den Ersten Weltkrieg und die Revolution in die Weimarer Republik, bis er 1927 aus der Redaktion der „Jugend“ ausschied.

Hinter dem Pseudonym des „alde Frankforder“ verbarg sich 1903 ein noch junger Mitarbeiter der „Jugend“: Karl Ettlinger, kaum 21 Jahre alt, der im Jahr zuvor als Redaktionssekretär angestellt worden war und bald darauf (1905) zum Redakteur der „Jugend“ avancierte. Ettlinger kommentierte seit 1902 in seinen satirischen Beiträgen besonders frech die aktuellen Ereignisse der Zeit. Dabei experimentierte er gern ein bißchen mit der Sprache und den Textformen. Aus dieser Lust an Sprachspielereien heraus versuchte er auch, im Dialekt zu schreiben. Sein eigener Heimatdialekt, das Frankfurterische, bot dem jungen Schriftsteller plötzlich völlig neue und interessante Ausdrucksmöglichkeiten, die ihn reizten und die er auszuschöpfen verstand.

Zunächst schrieb Karl Ettlinger den Dialekt so, wie er ihn gehört und gesprochen hatte, ohne je darüber nachgedacht zu haben. Vom sprachwissenschaftlichen Standpunkt aus gesehen, bediente er sich daher in den ersten frankfurterischen Beiträgen für die „Jugend“ einer äußerst fortschrittlichen Dialektschreibweise. Und prompt fühlten sich wohl einige seiner traditionsbewußten Landsleute in ihrem Sprachgefühl verletzt. Ettlinger antwortete ihnen in seinem Gedicht „Zor Abwehr“, in dem er sich zu der alten und ewig jungen Frage, was denn nun eigentlich der „echte“ Dialekt sei, äußert. Später setzte sich Ettlinger zunehmend auch mit sprachwissenschaftlichen Problemen des Dialektgebrauchs auseinander. Das wird nicht nur in der Themenwahl für seine Mundartgedichte deutlich, in denen es etwa um die Fragen geht, ob der Dialekt aussterbe oder ob Goethe frankfurterisch sprach. Vielmehr hat Ettlinger seine Dialektschreibweise in späteren Gedichten auch dem tradionelleren Standard in der Frankfurter Mundartdichtung angeglichen, er hat sogar für die spätere Veröffentlichung in Sammelbänden seine frühen Mundarttexte sprachlich überarbeitet und in den „Stoltze-Standard“ gesetzt. Ein Kuriosum sprachlicher Umarbeitung bei Ettlinger ist übrigens das im jüdischen Milieu angesiedelte Gedicht „Der Versöhnungstag“. Das Gedicht, in dem Ettlinger seine Satire - wie so oft - gegen religiöse Heuchelei wendet, erschien erstmals in der „Jugend“ 1902 auf hochdeutsch mit einigen jüdelnden Einsprengseln und ist 1907 dann aber auf jüdisch-frankfurterisch in Ettlingers Gedichtband „Kraut unn Riewe“ enthalten.

Die Möglichkeit, in die Rolle des „alde Frankforder“ zu schlüpfen, gab dem Satiriker aber nicht nur die Chance, seine sprachlichen Fähigkeiten zu erweitern und auszuschöpfen. Er konnte im Dialekt auch manches Thema aufgreifen, manche offene Kritik anbringen, die im Hochdeutschen undenkbar gewesen wären. „Derb sind wir Frankfurter“, schrieb Ettlinger 1922 in seinem autobiographischen Frankforter Gebabbel, „wir haben eine 'Gewitterschnut', aber - im Deutschen lügt man, wenn man höflich ist. Und ich glaube, in Frankfurt lügt man schon, wenn man Hochdeutsch spricht.“ Diese Erkenntnis machte sich Ettlinger als der „alde Frankforder“ in seinen satirischen Beiträgen zunutze. Er sagte direkt und „unscheniert“ seine Meinung, und sein zweiter Sammelband mit Mundartgedichten hieß denn auch „Unschenierte Gedichtcher von eme alde Frankforder“ (1916). Der „alde Frankforder“ hat also nicht nur harmlose Gedichtchen zu immer aktuellen Themen geschrieben, wie sie etwa im vorliegenden Band in dem Zyklus „Das Jahr“ zusammengestellt sind. Der „Frankforder“ war vielmehr ein journalistischer Satiriker, der zahlreiche politische, sozial- und kulturkritische Zeitgedichte verfaßt hat. Diese Texte sind heute jedoch nur noch von historisch-wissenschaftlichem Interesse und wären daher in einem Lesebuch wie dem hier vorliegenden fehl am Platze. Aber manche politische Anspielung findet sich auch in den scheinbar arglosen Gedichten, die hier abgedruckt sind. So enthält das Liebesgedicht an „Mei Klavier“ eine antipreußische Spitze, die den „Frankforder“ als „Preußenfresser“ entlarvt.

Die meisten der hier neu vorgestellten Texte „von eme alde Frankforder“ jedoch sind ohne historische Vorkenntnisse zu lesen und daher aktuell geblieben. Die Texte werden dem Leser in sechs großen Themenkreisen dargeboten. Der erste dieser Themenkreise enthält Gedichte über „Die große Stadt“, über Frankfurt am Main, die Heimatstadt Karl Ettlingers. Die Gedichte über die Stadt, ihre Persönlichkeiten, über Frankfurter Originale und Plätze sind manchmal melancholisch und heimwehmütig, oft auch fast äpfelweinselig, aber nie pathetisch, nie traditionalistisch und nie unkritisch - bei aller Liebe für Alt-Frankfurt und für Goethe, des „Frankforders“ größten Landsmann.

Vom Leben der „klaane Leut“ in der großen Stadt erzählt der „Frankforder“ dann im zweiten Abschnitt des Lesebuchs. Das einfache und auch das jüdische Milieu werden in den kleinen Episoden zwar liebenswert, aber auch entlarvend dargestellt. Die dennoch unbekümmert heiteren Geschichten enden meist in einer sprühend komischen Pointe, die vom Übermut des jungen „alde Frankforders“ zeugt.

Diese respektlose Komik spricht auch aus den Sprachparodien des „Frankforders“, für die die frankfurterische Bearbeitung eines klassischen Gedichts („Der Handschuh“ von Schiller) und eines Märchens („Schneewittchen“) im dritten Abschnitt des Lesebuchs Beispiele geben. Die weiteren Texte in diesem Abschnitt sind nicht nur in der „schee Sprach“ des „Frankforders“ geschrieben, sondern sie haben die Sprache an sich auch zum Thema. Außerdem wird mit „Wie ich in Hamburg Sprachunterricht erteilte“ eine der weitverbreiteten „Karlchen-Humoresken“ vorgestellt, die Ettlinger in den 1920er Jahren erneut beliebt machten.

Der nächste Abschnitt bringt sehr persönliche Texte des „Frankforders“. Die ersten drei Gedichte geben Auskunft über das Leben des Schriftstellers, seine Liebe zu seiner Frau, zur Musik und zu einer guten Zigarre. Die anderen Gedichte sind Ergebnisse des für die Entstehungszeit äußerst mutigen Versuchs, den Dialekt nicht nur für provinziell anmutende Heimatkunst zu gebrauchen, sondern ihn auch als ernstzunehmendes literarisches Stilmittel einzusetzen. Die zeitgenössischen Leser scheinen jedoch wenig Sinn für die Schönheit dieser lyrischen Gedichte gehabt zu haben. Ettlinger, dem Bajazzo, blieb nur, in seinem Gedicht „Sonnerbar“ festzustellen: „Sogar selbst wann ich wääne dhu,/Da dhun die annern lache.“

Auch die Beiträge im vorletzten Kapitel des Lesebuchs sind sehr ernsthaft, wenn auch auf anderer Ebene als die lyrischen Versuche Ettlingers. Anders und mehr als die meisten Texte des Lesebuchs, haben die Beiträge in dem Abschnitt „Der Krieg“ das Zeitgeschehen zum Hintergrund. Sie befassen sich mit dem Erlebnis des Ersten Weltkriegs, das nicht nur das Leben des Autors Karl Ettlinger einschneidend verändern sollte. Sie dürfen in dieser Anthologie nicht fehlen. Ist der erste dieser Texte, „Die Versöhnung“, noch fast unbekümmert heiter, so werden die späteren Texte zunehmend kritisch gegenüber dem Krieg. Der letzte Text, „Die Kinder spielen“, nimmt dann sogar eine pazifistische Wendung, die dem Leser übrigens durch einen Frankfurter Buben vermittelt wird.

Der letzte Abschnitt des Lesebuchs ist wieder unpolitisch. Der Gedichtzyklus „Das Jahr“ läßt das Buch mit humorvollen, manchmal sogar romantischen Gedichten über die vier Jahreszeiten ausklingen, wobei des „Frankforders“ Sympathie eindeutig der Frühling hat. Das Lesebuch schließt mit dem Gedicht „Weihnachte in der Fremd“, das zu den bekanntesten Gedichten des „Frankforders“ gehört.

Überhaupt sind manche der Texte „von eme alde Frankforder“ längst Klassiker der Frankfurter Mundartliteratur geworden, obwohl das vorliegende Lesebuch nach dem Tod des Autors die erste umfassende Neuausgabe frankfurterischer Texte von Karl Ettlinger ist. Natürlich darf in einer solchen Neuausgabe der beliebteste Text des Autors nicht fehlen, der frankfurterische Dialog „Die geteilte Walküre“, der bis heute zum Repertoire der Frankfurter Volksschauspieler gehört und über den sogar Wieland [richtig ist wohl: Wolfgang!] Wagner einmal herzlich gelacht haben soll.

Seitenanfang