Heidi in Frankfurt

Johanna Spyris Bestseller machte die Mainstadt in der Welt bekannt

Anno 1879, also nicht vor 125 Jahren, wie zur Zeit hier und da zu lesen ist, erschien „Heidi“ - die Geschichte von dem Schweizer Mädchen, das in der Großstadt vor Unglück krank wird. Der Kinderbuchklassiker hat das Bild von Frankfurt in der Welt geprägt, auch wenn Verfasserin Johanna Spyri die Mainstadt womöglich gar nicht aus eigener Anschauung kannte.

Frankfurt am Main (pia) Heidi ist in den Kinderzimmern der ganzen Welt zuhause, aber ausgerechnet in Frankfurt fühlte sie sich nicht daheim. Seit ihrem Erscheinen zu Weihnachten 1879 hat die Geschichte von dem Schweizer Naturkind, das in der Großstadt am Main mager und krank wird vor Sehnsucht nach den Bergen, die Herzen unzähliger kleiner und großer Leser gerührt. Das Buch von Johanna Spyri soll seither in 50 Sprachen übersetzt worden sein und eine Gesamtauflage von mehr als 50 Millionen Exemplaren erreicht haben. Vielfach wurde „Heidi“ auf die Bühne gebracht und verfilmt, und selbst wenn die Kids von heute nicht mehr zu dem Kinderbuchklassiker greifen, so kennen sie bestimmt die japanische Zeichentrickfernsehserie aus den siebziger Jahren, deren Titelmelodie sie dank digitaler Technik jederzeit mitjodeln können. Heidis seit über 125 Jahren anhaltender Welterfolg ist katastrophal - für Frankfurt. „Eine schreckliche Stadt!“, denkt sich jeder der Abermillionen Heidi-Fans von Offenbach bis Osaka doch gleich. „Heidi hat es da gar nicht gefallen.“

Die Story von Heidi und ihren Erlebnissen in Frankfurt ist schnell erzählt. Die Autorin Johanna Spyri (1827-1901), Frau des Zürcher Stadtschreibers, hat sie in wenigen Wochen im Sommer 1879 aufgeschrieben. In dem kleinen Roman „Heidi’s Lehr- und Wanderjahre“ lebt das Waisenkind Heidi glücklich bei seinem Großvater Alm-Öhi in der Schweizer Bergeinsamkeit, bis es eines Tages von der Tante Dete nach Frankfurt „entführt“ wird. Dort soll „das“ Heidi im Hause des „furchtbar reichen“ Handelsherrn Sesemann dessen gelähmter Tochter Klara Gesellschaft leisten. Obwohl sich die beiden Mädchen bald anfreunden, gefällt es Heidi in der Stadt nicht. Aus den Fenstern des Sesemannschen Hauses, „fast“ des „schönsten (...) in ganz Frankfurt“, will das Kind gleich am ersten Morgen „Himmel“ und „Erde“ sehen: „Aber Heidi fand nicht, was es suchte. Es lief von einem Fenster zum anderen und dann wieder zum ersten zurück; aber immer war dasselbe vor seinen Augen, Mauern und Fenster und wieder Mauern und dann wieder Fenster. Es wurde Heidi ganz bange.“

Heidi läuft fort. Sie hat aus dem Fenster einen hohen Kirchturm „mit der goldenen Kugel oben drauf“ erblickt, wahrscheinlich den Katharinenkirchturm, von dessen Spitze sie nach den Bergen Ausschau halten will. Doch sie verirrt sich. Ein zerlumpter Straßenjunge mit einer Drehorgel führt sie schließlich zum Dom, der nach dem Brand des Jahres 1867 gerade erst wieder in neuem Glanz erstrahlt. Mit dem Turmwächter steigt Heidi hinauf und sieht „auf ein Meer von Dächern, Türmen und Schornsteinen nieder“. Enttäuscht von der „steinernen“ Aussicht lässt sie sich von dem kleinen Drehorgelspieler zurück zum Hause Sesemann bringen.

Bei ihren Schauplätzen arbeitete Heidis Erfinderin Johanna Spyri gerne mit Klischees. Sie wählte Frankfurt eher exemplarisch aus: als Gegenbild zur Schweizer Bergwelt und als Vorbild für eine deutsche Bürgerstadt. Es ist unbekannt, ob die Schriftstellerin jemals in der Mainstadt war. Beim Schreiben hatte sie jedenfalls keine reale Vorstellung von Frankfurt um 1880 vor Augen. Doch der Schriftsteller Martin Mosebach ist ihr jüngst auf die Spur gekommen: Die Goetheliebhaberin, die schon im Titel ihres kleinen Romans von „Heidi’s Lehr und Wanderjahren“ auf „Wilhelm Meister“ anspielte, kannte die Stadt aus „Dichtung und Wahrheit“. Es ist nicht die aufstrebende Bürgerstadt des 19. Jahrhunderts, sondern die alte Reichsstadt zur Goethezeit, in deren Mauern sich Heidi eingesperrt fühlt.

So steht das schöne Haus des wohlhabenden Herrn Sesemann noch mitten in der engen Altstadt, die die vornehmen Familien zu Heidis Zeiten eigentlich tunlichst verließen, um neue Villen an der Mainpromenade oder im Westend zu beziehen. Vielleicht dachte die Spyri an das Haus am Großen Kornmarkt, aus dem Goethes Verlobte Lili Schönemann stammte, zumal deren Nachname an „Sesemann“ anklingt. Zur Goethezeit gehörte die Bankiersfamilie Schönemann neben Bethmann und Gontard wirklich zu den ersten Familien der Stadt, und ihr Haus galt als eines der elegantesten in Frankfurt.

Heidis Schauplätze in Frankfurt gab es also eigentlich schon bei ihrer Geburt nicht mehr, und um eine realistische Schilderung der Stadt ging es Heidis „Mutter“ auch gar nicht. Johanna Spyri schrieb ihre „Geschichte für Kinder und auch für Solche, welche die Kinder lieb haben“, ursprünglich für das „Bremer Kirchenblatt“ - und das merkt man dem Buch an. Heidi wird zwar in Frankfurt so krank und mondsüchtig vor Heimweh, dass sie zum glücklichen Ende des ersten Teils in die Berge zurückkehren darf. Aber der Aufenthalt am Main war beileibe nicht umsonst: Heidi hat lesen, beten und Kirchenlieder singen gelernt - und „Heidi kann brauchen, was es gelernt hat“, wie die Leser aus der 1881 erschienenen Fortsetzung diesen Titels erfahren können. Darin heilt die Kleine dank ihrer in Frankfurt erworbenen Fertigkeiten den Großvater von seiner gotteslästerlichen Misanthropie, den Geißenpeter von seiner bildungsfeindlichen Trägheit und Klara von ihrer zivilisatorischen Krankheit. Angesichts eines solchen „Segens“, den Heidi „von Frankfurt mit heimgebracht hat“, fällt ihr eigenes Urteil über die Stadt denkbar gerecht aus: „Kein Mensch kann es so gut haben, wie man es in Frankfurt hat.“ Das kluge Kind weiß: Ohne Frankfurt wären auch die Schweizer Berge nur halb so schön.

Sabine Hock

Wochendienst, hg. v. Presse- und Informationsamt der Stadt Frankfurt am Main, Nr. 45 vom 14.11.2006

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